„Ohne die Nazis würden wir anders über nicht-binäre Menschen sprechen!“

Es wird weltweit gesellschaftlich viel gestritten rund um die Themen Gender, Transgeschlechtlichkeit und Nicht-Binarität. Unser Autor, der in Berlin Stadtführungen zur queeren und trans Berliner Geschichte gibt, ist der Überzeugung, dass diese Diskussionen ganz anders ablaufen würden, wenn es die Nazis nie gegeben hätte. In einem Kommentar zum internationalen Tag nicht-binärer Menschen am 14. Juli erklärt dey warum.
Eine Illustration zeigt eine Bücherverbrennung. Davor blickt eine nicht-binäre Person besorgt auf die brennenden Bücher. Im Hintergrund entfernt sich eine Person mit zwei Koffern.
Illustration: Noah Weinmann, www.noah-elio.com

Bayerische*r Ministerpräsident*in Markus Söder verbietet das Gendern mit Doppelpunkt, Sternchen oder Unterstrich. Bzw. korrekter ausgedrückt: Er verbietet die gender-gerechte Sprache – denn auch das generische Maskulinum ist eine Form von Gendern. Unter Anführung ihres stark selbst-verliebten Chefs verbietet die Anti-Verbots-Partei nach Strich und Faden. In Behörden, Schulen, sowie an Unis darf man jetzt nicht mehr über „Politiker*innen“, „Bürger:innen“, oder „Lehrer_innen“ schreiben.

Triggerpunkt Gender: Ist Nicht-Binarität ein „Trend“?

Das Thema Gendern erhitzt die Gemüter. Die drei Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser nennen dies einen „Triggerpunkt“. Ihrer Studie zufolge herrscht gesamtgesellschaftlich bei vielen großen Themen wie Migration, Diversität oder Klimaschutz einigermaßen Konsens. Allerdings verschärfe sich schlagartig die Debatte, wenn gewisse Triggerpunkte berührt werden. Und dazu gehört das Gendern.

Die Leidtragenden sind – wie so oft – Minderheiten. In diesem Fall queere, insbesondere nicht-binäre, gender non-konforme und intergeschlechtliche Menschen. Auf deren Rücken wird die Debatte ausgetragen – teilweise mit eklatanten Vorurteilen und Wissenslücken.

Dabei hört man immer wieder, dass das alles doch ein „Trend“ sei, eine „Modeerscheinung“, der besonders junge Menschen jetzt vermehrt nachgehen würden. Und an diesen Aussagen zeigt sich beispielhaft das Drama der queeren Geschichte.

Was die allermeisten Menschen nämlich nicht wissen: Nicht-binäre Menschen – und auch wissenschaftliche Arbeiten über Nicht-Binarität – gab es schon vor über 100 Jahren, wenn auch mit anderen Worten. Nur: Die Nazis haben alles gründlich zerstört, was nicht nur die queere Bewegung in Deutschland, sondern die gesamte gesellschaftliche Debatte international um Jahrzehnte zurückgeworfen hat. Das Drama lautet: Queere Menschen kennen ihre eigene Geschichte oft nicht. Aber auch die Welt kennt sie nicht. Und daran haben unter anderem die Nazis Schuld.

43 Millionen Geschlechter

1897 gründete der jüdische Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld in Berlin das Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee (WhK): die weltweit erste Organisation für die Rechte queerer Menschen. 1919 gründete er dann noch das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaften – ebenfalls in Berlin. Hier war dann auch das WhK beheimatet. Hirschfelds Motto: Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit. Und das zog er konsequent durch! Er war davon überzeugt, dass die Wissenschaft mit dem Kampf für Menschenrechte verbunden werden müsste.

Nicht nur wurde Berlin dadurch zum Zentrum der weltweiten Sexualwissenschaft, nicht nur hatte sein Institut eine internationale Strahlkraft und erwirkte Gesetzesänderungen rund um Geschlecht und Sexualität in mehreren Ländern, Hirschfeld machte Berlin ebenfalls zur Anlaufstelle und zum Zufluchtsort für queere Menschen aus der ganzen Welt. In seinem Institut fanden in den 1920er Jahren einige der weltweit ersten geschlechtsangleichenden Operationen statt. Trans Menschen aus der Zeit, die von überall her nach Berlin gereist sind, berichteten, dass sie sich nach diesen Operationen so glücklich wie noch nie zuvor gefühlt hatten.

Zudem führte Hirschfeld nicht nur zahlreiche Untersuchungen und Befragungen zu queeren Lebensweisen durch, er entwickelte auch erste Theorien und Begrifflichkeiten, um diese Lebensweisen zu beschreiben und zu erklären. Er prägte zum Beispiel die Begriffe „Transvestit“ und „Transsexualismus“, frühe Identitäten für Geschlechterdiversität bevor es den Begriff „trans“, wie wir ihn heute benutzen, gab. Und Hirschfeld entwickelte eine frühe wissenschaftliche Theorie gegen die Geschlechter-Binarität!

Er nannte 16 unterschiedliche Kategorien, die wir heute womöglich mit primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen, Geschlechtsidentität, sexuelle Identität, u.s.w. beschreiben würden. Und er meinte, in allen dieser 16 Kategorien könne man entweder eine männliche Ausprägung, eine weibliche, oder eine Mischung aus männlicher und weiblicher Ausprägung haben. Das führe theoretisch zu einer Möglichkeit von 316 Geschlechtsausprägungen, also insgesamt 43.046.721!

Von sexuellen Zwischenstufen zu Nicht-Binären

Praktisch erachtete er Geschlecht jedoch als Kontinuum mit männlich und weiblich als die beiden Extrempole. Alle Menschen hätten demnach eine Mischung aus weiblichen und männlichen Merkmalen, die meisten würden sich aber eher an den beiden Enden dieses Kontinuums ansammeln. Aber viele auch mehr in der Mitte. Und diese Menschen nannte er sexuelle Zwischenstufen!

Die Theorie der sexuellen Zwischenstufen gab Menschen erstmalig wissenschaftlich die Möglichkeit, sich außerhalb der Geschlechterbinarität zu definieren. Also eben zum Beispiel auch nicht-binäre und gender non-konforme Menschen. Und das rund einhundert Jahre vor unserer Zeit.

In seinem Institut in Berlin legte Hirschfeld zudem ein gigantisches Archiv und eine Bibliothek zu Geschlecht und Sexualität an. Eine riesige globale Wissensansammlung, die sich in Berlin konzentrierte. Und das sollte dann auch die Gefahr für dieses Wissen und die noch junge Bewegung darstellen…

Die Nazis waren der Grund für das Drama der queeren Historie

Denn wenn es gesellschaftliche Debatten um Nicht-Binarität schon vor rund einhundert Jahren gab, warum glauben heute so viele Menschen, dass dies ein neuer Trend sei?

Weil auf diese liberale Zeit die Nazis folgten! Als sie 1933 die Macht ergriffen, war das Institut eines der ersten Orte, die sie angriffen. Im Film „Ein ganzes Leben“ von Alexandra Ripa erzählt Adelheid Schulz, die damals am Institut Haushälterin war:

„Ich sehe heute noch die Horden… Ich saß alleine auf dem Schreibtisch von Hirschfeld und hab zugesehen, wie zwei Nazis auf mich zukamen und meinten: ‚Wir wollen den Juden Hirschfeld haben!‘“

 

Der war jedoch auf einer Weltreise und kehrte auch nicht mehr nach Deutschland zurück. Also fingen sie an, sein Institut zu zerstören. Das Archiv, die Bibliothek, die wissenschaftlichen Untersuchungen und Abhandlungen: Alles fiel den Nazis zum Opfer.

„Hirschfelds Büste wurde auf einem großen Stock oder einer Stange von den Nazis vorweg getragen. Ich hab das gesehen. Und mir kamen die Tränen! (…) Alle waren sie weg gezogen, weil sie Angst hatten, sie würden mitgenommen werden, weil sie homosexuell waren. Ich hab dann noch bis Juli hier gewohnt. Und dann… war’s vorbei!“

 

Die Bücher und Papiere, die die Nazis aus dem Institut entfernten, wurden bei der berüchtigten Bücherverbrennung unwiderruflich zerstört. Damit erlitt nicht nur die Wissenschaft in Deutschland einen herben Rückschlag. Es war eine Auslöschung des Großteils des globalen Wissens um geschlechtliche Diversität.

Magnus Hirschfeld (rechts) sitzt auf einem Sofa mit seinem Partner Tao Li.
Magnus Hirschfeld (rechts) mit seinem Partner Tao Li. (Foto: Wellcome Images, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons)

Das verschollene Erbe

Das Wenige, das Hirschfeld vor den Nazis retten konnte, vererbte er nach seinem Tod 1935 an seine beiden Partner Karl Giese und Li Shiu Tong (oder auch Tao Li genannt). Giese hatte etwas später einen neuen Partner und lebte mit ihm in Osteuropa. Allerdings nahm er sich das Leben, als die Nazis den Osten überfielen. Er wollte einer Festnahme durch die Nazis zuvorkommen. Sein Partner wurde von den Nazis erwischt, kam in ein Konzentrationslager und wurde dort ermordet. Der Teil von Hirschfelds Erbe ist seitdem verschollen. Vielleicht ebenfalls zerstört.

Tao Li hat es geschafft, den Nazis zu entkommen. Nach dem Krieg kontaktierte Deutschland ihn, um ihm als Hirschfelds Erbe Reparationen anzubieten. Doch er weigerte sich, mit dem Land zu kommunizieren, das seinen Partner zerstörte. Und danach wussten nur noch wenige, wo er sich aufhielt.

Die Jahre vergingen. Jahrzehnte.

Und dann passierte 1993 plötzlich etwas in Vancouver in Kanada: Im Müllcontainer seines Gebäudes fand ein Mann plötzlich zwei Koffer voller deutscher Papiere, Bücher, Tagebücher und Fotografien. Dies kam ihm seltsam vor. Er fischte es aus dem Müll und postete etwas in der frühen Version des Internets: Ob es denn für jemanden von Interesse sein könnte?

Fast 60 Jahre bis zur Wiederentdeckung

Fast ein Jahrzehnt verging bis Ralf Dose von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft in Berlin diesen Post Anfang der 2000er fand. Er kontaktiere den Mann und glücklicherweise hatte dieser noch alles aufgehoben. Ralf Dose flog nach Kanada und brachte das Wenige von Hirschfelds Erbe, das nicht durch die Nazis zerstört wurde, zurück nach Berlin.

Was war passiert? Tao Li reiste nach dem Krieg um die Welt, um Hirschfelds letztem Wunsch gerecht zu werden: Sexualwissenschaft in der Welt verbreiten. Doch er fühlte sich etwas überfordert. Allerdings hatte er stets diese beiden Koffer mit dabei. Zwei Koffer voll mit den Sachen, die Hirschfeld vor den Nazis retten konnte und an ihn vererbte. Irgendwann ließ er sich dann in Vancouver in Kanada nieder – im gleichen Gebäude, in dem auch dieser Mann lebte. 1993 starb Tao Li dort. Und die Menschen leerten seine Wohnung und schmissen alles in den Müll. Ohne zu wissen, was sie dort eigentlich weg warfen.

Hätte dieser Mann diese beiden Koffer nicht aus dem Müll gefischt, wären die letzten Überreste der weltweit ersten queeren Emanzipationsbewegung – und damit auch die ersten wissenschaftlichen Theorien und Nachweise zur geschlechtlichen Nicht-Binarität – für immer verloren gewesen.

Das ist das, was ich das Drama der queeren Historie nenne. Beim Thema Gender Diversity und Nicht-Binarität kommen wir in der gesellschaftlichen Debatte erst heute wieder langsam dort an, wo wir schon vor rund 100 Jahren standen. (Und auch heute versuchen nicht nur Nazis dem Einhalt zu gebieten, sondern auch rechte Populist*innen wie die CSU-Söder*in.) Deswegen erscheint es für viele Menschen so „neu“ – obwohl es das nicht ist. Die Nazis haben damals alles zerstört und die Bewegung und Wissenschaft um Jahrzehnte zurückgeworfen. Ich bin mir deswegen sicher: Wären die Nazis nie passiert, wir würden heute ganz anders – viel fortschrittlicher, akzeptierender und selbstverständlicher – über (und vor allem mit) nicht-binären Menschen sprechen!

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