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Kultur & Szene Leben mit HIV

„Keine Strafen, keine Angst, bloß Sex“

Scissor-Sisters-Frontmann Jake Shears über Sex vor HIV/Aids, Berlin und das Album „Night Work“.

Scissor-Sisters-Frontmann Jake Shears spricht mit ICH WEISS WAS ICH TU über Freunde in Berlin, die Zeit vor Aids, Monogamie und die Lust am Sex der anderen. Und er erklärt, warum sich das neue Album „Night Work“ anfühlt wie eine Nacht im „Berghain“.

Jake Shears (2.v.links) gewährt Einblicke

(Interview: Paul Schulz)

Jake, euer neues Album „Night Work“ dreht sich um Sex und wird auch als „music to have sex to“ vermarktet. Trotzdem hat das Album irgendwie eine nostalgische Grundnote. Kannst du uns erklären, wieso?

Jake Shears: Als „nostalgisch“ würde ich es gar nicht bezeichnen. „Night Work“ versucht da anzuschließen, wo eine bestimmte schwule Kultur mit dem Auftauchen von Aids abrupt abbrach. Das gilt für die gesamte Ästhetik der Produktion wie auch für die Musik.

Kannst du das näher beschreiben?

Nicht in Gänze. Hör es dir an. Was du dabei im besten Falle entdeckst, ist eine Freiheit im Umgang mit Sexualität und Männlichkeit, die du heute in weiten Teilen der Szene weltweit nicht mehr findest.

Hört sich an wie es aussieht: das neue Album

Was fehlt denn da?

Dazu muss ich etwas weiter ausholen. Auf dem Cover der CD ist der Arsch des Tänzers Peter Reed, ein Foto, das Robert Mapplethorpe Ende der 1970er gemacht hat. Ich habe mich beim Schreiben von „Night Work“ sehr von Mapplethorpe inspirieren lassen, weil seine Darstellungen von Sexualität für seine Zeit entgrenzt, aber trotzdem hochgradig ästhetisch waren. Ich wollte Musik machen, die sich so anhört wie ein Mapplethorpe-Foto aussieht.

Wie das Cover mit dem Hintern?

Ich kannte es vorher nicht und es befand sich auch in keinem der über ein Dutzend Bildbände, die im Studio während der Arbeit an „Night Work“ herumlagen. Aber als ich es sah, wusste ich sofort, dass das unser Cover sein würde. Weil es perfekt ausdrückt, worum es auf dem Album geht: Die Umsetzung eines alten Wunsches mit neuen Mitteln. Und einen schönen Arsch.

Hast du oft solche Geistesblitze?

Ja. Wie das Album letztlich klingen sollte, habe ich auf der Tanzfläche des „Berghain“ in Berlin herausgefunden. Es war zwei oder drei Uhr morgens, roch nach Schweiß, Poppers, Alkohol und ein bisschen nach Scheiße, weil viele Leute fisteten. Und plötzlich hatte ich sowas wie eine Erleuchtung. Ich hatte das Gefühl: So wie sich das gerade anfühlt, so müsste unser Album klingen.

Wie hat es sich denn angefühlt?

Es hatte etwas komplett Natürliches, aber auch sehr wildes, fast ein bisschen wie ein Stammesritual, dass ich früher gelernt, dann vergessen und jetzt wiederentdeckt hatte. Etwas sehr Männliches, das aber frei war von jedem Machismo und Frauen nicht unbedingt ausschließt. So, stelle ich mir vor, hat sich New York zu der Zeit angefühlt, als Mapplethorpe da ankam. So muss es in den 1970ern im „Studio 54“ gewesen sein.

Heißt deswegen eins der Stücke auf der CD „Sex and Violence“?

Darin geht es vor allem um meine Vorliebe für „American Psycho“ und Horrorfilme aus meiner Jugendzeit. Aber der öffentliche Sex im Berghain oder an anderen Orten hat ja auch etwas latent Aggressives, weil er so offen ist und so unverschämt im besten Sinne.

Hattest du auch selbst dort Sex?

Nein, ich lebe mit meinem Freund Chris in einer monogamen Beziehung.

Warum warst du dann überhaupt morgens um zwei im Berghain?

Weil es dort schön ist. Ich war nach Berlin gekommen, um den Kopf frei zu kriegen. Wir hatten in New York ein Album aufgenommen, das in Ordnung war, das wir aber am Ende eingestampft haben, weil ich es nicht besonders mochte. Als mir das auffiel, habe ich Hals über Kopf alles hingeschmissen und bin für zwei Monate nach Berlin gegangen.

Wo lebst du, wenn du in Berlin bist?

Ich habe im Prenzlauer Berg gewohnt, war anonym, bin ausgegangen und habe mich mit Freunden wie Rufus Wainwright oder Neil Tennant von den Pet Shop Boys getroffen, die auch dort leben. Und dabei waren wir halt auch immer wieder im Berghain, das eventuell der zurzeit inspirierendste Ort der Welt ist. Ich kenne die Besitzer schon länger und habe schon im „Ostgut“, das ihnen früher gehörte, unfassbar schöne Nächte gehabt.

Wie geht man nächtelang an Orte, die man inspirierend und lustvoll findet, ohne selbst Sex haben zu wollen?

Wer sagt denn, dass ich nicht wollte? (lacht) Ich habe mich entschieden, monogam zu leben, und bin auch froh damit, aber Zuschauen ist auch Sex und man ist ja als Voyeur auch in einer sehr lustvollen Position.

Die Scissor Sisters 2006

Und das geht in Berlin besonders gut?

In Berlin ist so vieles möglich, was in New York in öffentlichen Räumen nicht mehr stattfinden darf. Da gibt es überall Polizisten mit Taschenlampen. Und alles, was ihr in Deutschland braucht, sind zwei oder mehr Kerle, die sich einig sind, was sie machen wollen und die Verantwortung übernehmen, für sich selbst und für das, was sie tun. Das ist so frei und so selbstbestimmt! Keine Strafen, keine Angst, bloß Sex. Ich bin sehr froh, dass es Orte auf der Welt gibt, wo das so funktioniert.

Welche Rolle spielen Drogen bei diesen Erfahrungen?

Drogen können einem das Leben komplett zerstören, sind aber auch sehr schön und wertvoll, wenn man sie nicht im Übermaß konsumiert. Auch das ist die Verantwortung jedes Einzelnen. Und mehr muss man dazu gar nicht sagen. (lächelt)

Was kannst du sonst noch in Berlin, was in New York nicht geht?

Beim Ausgehen einfach ich sein, weil ich oft nicht erkannt werde. Das geht in New York so gar nicht. Mein Leben dort ist sehr geregelt, weil es der Ort ist, wo ich arbeite, wo meine Beziehung ist und die meisten meiner Freunde leben. New York ist mein Alltag. Und außerdem  ist natürlich eine bestimmte Art von Nachtleben, die in Berlin in voller Blüte steht, so in New York gar nicht mehr möglich, weil alles so wahnsinnig teuer ist.

Themenwechsel: Du hast kürzlich zusammen mit Armistead Maupin ein Musical geschrieben, stimmt’s?

Ja, wir haben den ersten und zweiten Teil seiner „Stadtgeschichten“ zu einem Musical gemacht, das 2011 Uraufführung haben wird. Die Arbeit daran war eine große Freude für mich und ließ sich gut zusammen mit dem neuen Album machen.

Weil in den beiden Bänden der „Stadtgeschichten“ auch von der Zeit vor Aids erzählt wird?

Sehr richtig. Oder vielleicht ist es so: Das „Stadtgeschichten“-Musical erzählt von der Zeit davor, wie ja auch die Bücher, während sich die Scissor Sisters auf „Night Work“ überlegen, wie es sein könnte, wenn es Aids nie gegeben hätte. Wie wäre die Musik? Wie wären die Männer? Wie wäre der Sex?

Also ist das Album Science Fiction?

Nein. Ja. Vielleicht. Aber gute! (lacht)

Das Video zur aktuellen Single „Fire with Fire“

Homepage der Scissor Sisters