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Politik & Gesellschaft

Stimmen hören

In Berlin sind die Stimmen von Menschen mit Aids zu hören – auf der Straße

Seit Donnerstag sind auf den Straßen Berlins die Stimmen von Menschen mit Aids zu hören. Wie aus dem Nichts erzählen sie vom Leben mit der Krankheit. Das kann zu Irritationen führen

Stimmen, die Kreise ziehen: Dieses Logo weist den Weg zu den Lebensgeschichten

Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht, und die besten findet man in Polizeiberichten: „Am heutigen Morgen, gegen 04:00 Uhr, beschwerten sich mehrere Bürger unabhängig voneinander telefonisch bei der Polizei, dass die Ampelanlage in der Kastanienallee/Schönhauser Allee laut mit den Passanten spricht.“

Woher wir diese Meldung haben? Aus dem Blog von „Stimmen in der Stadt“, dem Berliner Audioprojekt zum Welt-Aids-Tag. Die Aktion gibt Menschen mit Aids eine Stimme in der Öffentlichkeit – und zwar ihre eigene.

Das funktioniert so: An 15 Orten auf Berlins Straßen sind Lautsprecherstationen installiert. Das Symbol der Aktion – ein Mann mit Megaphon in einem roten Kreis – weist den Weg. Schon im Vorbeigehen hören Passanten wie aus der Ferne die Stimmen. Ein großer Kreis mit dem Logo auf dem Gehweg markiert den Bereich, in dem sie laut und deutlich zu vernehmen sind. Sie erklingen aus vier Metern Höhe, wie aus dem Nichts.  

Da kann man offenbar schon mal glauben, die Ampel habe zu sprechen begonnen. Aber warum riefen die Leute die Polizei, statt einfach zuzuhören? Vielleicht weil der Spaß aufhört, wenn man sich auf die Stimmen einlässt.

Nicht die Ampel spricht ...

Da berichtet dann Anneliese, wie sie durch eine Vergewaltigung mit HIV infiziert wurde. Eva, die sich als Drogenkonsumentin infiziert hat, schildert, wie ihre Mutter früher die von ihr benutzte Tasse mit Essig abwusch, und welche Schwierigkeiten sie als HIV-positive Mutter durchzustehen hatte.  

Der schwule Paul erzählt, wie er 17 Jahre einsam in seiner Einzimmerwohnung lebte, weil seine Freunde alle gestorben waren. „Ich habe gedacht, du findst noch mal nen Partner und dann bleibste zusammen. Aber dem ist ja nicht so. Die woll’n ja immer nur bumsen und dann kenn‘se dich am nächsten Tag nicht.“ Bis zu seinem Tod letztes Jahr wohnte Paul dann im Wohnprojekt „Zu Hause im Kiez“ (ZiK) und zog am Ende ein positives Resümee: „Ich habe gelebt, ich habe geliebt. (…) Ich habe viel von der Welt gesehen und ich habe nichts versäumt.“

Sechs Menschen kommen bei „Stimmen in der Stadt“ zu Wort. Ihre Berichte sind jeweils zehn Minuten lang und laufen an den Audiostationen bis zum 8. Dezember in Endlosschleifen – 24 Stunden am Tag.  

Es sind Lebensgeschichten, wie man sie kaum noch hört, seit es Therapien gegen HIV gibt. „Aidskranke Menschen sind nicht mehr Gegenstand der medialen Aufmerksamkeit. Sie überleben länger – und sterben leiser“, schreiben die Organisatoren von „Stimmen in der Stadt“ auf der Website des Projekts. Sie wollen verhindern, dass Menschen mit Aids vergessen werden.

Der Hintergrund: Die Krankheit Aids lässt sich heute zwar in aller Regel vermeiden, wenn man sich vor nicht allzu langer Zeit mit HIV infiziert hat, rechtzeitig durch einen Test davon erfährt und zum richtigen Zeitpunkt beginnt, HIV-Medikamente zu nehmen. Aber diejenigen, die schon sehr lange positiv sind, profitieren teilweise weniger von den Medikamenten. Ihre Gesundheit hat oft schon schweren Schaden genommen oder sie haben mit Resistenzen gegen die Medikamente zu kämpfen. In diesem Jahr sind rund 760 Menschen in Deutschland an Aids erkrankt, 550 starben an den Folgen der Infektion.  

... sondern die Hörstation

Auf der „Krankenreise“ der Berliner Aids-Hilfe entstand die Idee zu den „Stimmen in der Stadt“, nachdem dort Interviews für Sponsoren der Reise aufgezeichnet worden waren. Der Arzt Christoph Weber vom Berliner Auguste-Viktoria-Klinikum (AVK) und der Kulturwissenschaftler Martin Kostezer suchten und fanden dann zahlreiche Unterstützer. Die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hat die Schirmherrschaft übernommen. „Ich fand die Idee toll. Besser als Plakate!“, sagte sie bei der Eröffnungsveranstaltung am vergangenen Mittwoch im Berliner Axel-Hotel.

Plakate, so könnte man sagen, sprechen Passanten eben nicht so direkt an – jedenfalls nicht mitten in der Nacht von oben.

Die Lautsprecheranlage in der Kastanienallee wurde übrigens nach den Beschwerden polizeilich konfisziert. Kurz darauf wurde sie laut dem Blog der Aktion mit einer wortreichen Entschuldigung wieder zurückgegeben. Denn die Stimmen in der Stadt sind natürlich amtlich bewilligt.

(Holger Wicht)

www.stimmen-in-der-stadt.de

Direkt zu den Stimmen (Audiofiles auf der Website des Projekts)

Bericht im Blog der Deutschen AIDS-Hilfe