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Schöne Fassade mit ersten Rissen

Darf man trotz der politischen Situation in Baku am Eurovision Song Contest seine Freude haben? Ein Fan-Gespräch.

Markus Herrmann (Mitglied im Fanclub "Organisation Générale des Amateurs de l'Eurovision") vor der Crystal Hall in Baku.

Menschenrechtsverletzungen und Homophobie in Aserbaidschan (iwwit.de berichtete).  Für ESC-Hardcore-Fans ist die weltgrößte Musikshow in diesem Jahr ein schwieriger Spagat: Darf man an dem Wettbewerb trotz der politischen Situation seine Freude haben? Oder sollte man ihn boykottieren? ICH WEISS WAS ICH TU sprach mit Markus Herrmann. Er ist Miglied im ESC-Fanclub „Organisation Générale des Amateurs de l’Eurovision“ und wird die Show live in Baku miterleben.

 

Herr Herrmann, der diesjährige Eurovision Song Contest: Eine Show wie so viele vorher?

Der ESC in Baku ist mein zweiter live miterlebter Contest. Im vergangenen Jahr in Düsseldorf war ich zum ersten Mal hautnah dabei. Sicher sind diese beiden ESCs nicht miteinander vergleichbar. Angesichts der Situation in Aserbaidschan bezüglich Verletzung der Menschenrechte und Homophobie habe ich mir im Vorfeld natürlich die Frage gestellt: Reise ich, oder nicht?

Was hat für Sie den Ausschlag gegeben, dann eben doch dorthin zu reisen?

Letztendlich ist der ESC ein menschen- und völkerverbindendes Ereignis, das mir ungeheuren Spaß bereitet. Daher habe ich mich gegen einen Boykott des ESC ausgesprochen. So nah an den Künstlern zu sein, die Pressekonferenzen, Proben und natürlich die Show live zu erleben, ist einzigartig.

In einem ESC-Fanclub vermutet man automatisch viele schwule Männer. Gab es Mitglieder, die sich aufgrund ihrer Sexualität entschlossen haben, lieber nicht nach Baku zu reisen?

Es gibt ja viele Länder, in denen man als Schwuler nicht geduldet wird. Ich kenne aber niemanden persönlich, der aus diesem Grund nicht nach Baku geflogen ist.

Sie sind nun schon ein paar Tage in Baku. Wie sind Ihre ersten Eindrücke von der Stadt und den Menschen dort?

Ich bin erstaunt, wie nett und gastfreundlich hier die Menschen sind. Man läuft durch die Straßen, die Leute erkennen einen als „ESC-Tourist“ und es wird einem gleich ein „Welcome in Baku!“ zugerufen. Die Stadt wurde für den ESC in kürzester Zeit baulich verändert, die Crystal Hall, die Flame Towers und eine gigantische Strandpromenade sind eigens errichtet worden. Es wird noch immer Tag und Nacht gearbeitet, und hier und da herrscht noch Chaos. Extremes Beispiel: Die Unterführungen zur Halle sind noch nicht fertig. Man muss zwei dreispurige und vielbefahrene Strassen ohne Ampel oder Zebrastreifen zu Fuß waghalsig überqueren, um zur Halle zu kommen. Ich hoffe, die werden bis zur Liveshow noch fertig.

Bekommen Sie direkt etwas mit von Zensur oder direkter Homophobie?

Wenig, mir sind nur zwei Zwischenfälle bekannt. Die schöne aserbaidschanische Fassade zeigt erste Risse: Während einer Party spielte der deutsche DJ einen armenischen Titel und wurde hinterher ermahnt, das zukünftig zu unterlassen. Allen DJs wurde untersagt, armenische Musik zu spielen. Bekannterweise steht Aserbaidschan mit Armenien in einem ungeklärten Kriegszustand. Zum zweiten wurden Internetseiten wie ESC-Today und ESC-Aserbaidschan  deaktiviert – vermutlich von homophoben Hackern, die laut Gerüchten aus dem Iran stammen.

Wünschen Sie sich, dass von diesem ESC auch ein politisches Signal gegen Homophobie und Menschenrechtsverletzungen ausgeht?

Den ESC in Aserbaidschan sehe ich als Chance, auf die Missstände öffentlich aufmerksam zu machen, was ja bereits erfolgt ist. Denn sind wir mal ehrlich: Wer hat sich denn in der breiten Masse zuvor mit der Situation in Aserbaidschan befasst, geschweige denn gewusst, wo genau das Land liegt …

Und auch diese Frage darf natürlich nicht ungestellt bleiben. Herr Herrmann, Sie als Experte… Wer wird den ESC gewinnen? 

Ich denke Italien wird den ESC gewinnen, weil das Lied eingängig ist und von Nina Zilli perfekt dargeboten wird. Aber mal abwarten, denn es gab schon immer mal wieder Überraschungssiege beim ESC.

 

Interview: Tim Schomann