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Homophobie in der Familie: „Ich habe es nicht mehr ertragen“

Oft waren es nur beiläufige Bemerkungen, mit denen seine Eltern seinen schwulen Lebensstil missbilligten. Karsten hat lange, aber vergeblich um Akzeptanz in seiner Familie gekämpft – und dann den Kontakt zu ihr abgebrochen.

Oft waren es nur beiläufige Bemerkungen, mit denen seine Eltern seinen schwulen Lebensstil missbilligten. Karsten hat lange, aber vergeblich um Akzeptanz in seiner Familie gekämpft – und dann den Kontakt zu ihr abgebrochen.

Homophobie in der Familie: Seit über einem Jahr hat Karsten* nichts mehr von seinem Bruder gehört: kein Geburtstagsgruß, keine Neujahrswünsche. Bis vor Kurzem eine SMS kam, in der er die Hochzeit mit seiner Lebensgefährtin ankündigte – und Karsten explizit zur Feier auslud.

„Warum schreibt er mir das überhaupt? Doch nur, weil er mir noch mal eins reinwürgen wollte, oder?“ Karsten stellt diese rhetorische Frage zwar ruhig und in einem sachlichen Ton, aber das Vibrieren in der Stimme verrät, wie sehr ihn das alles noch immer schmerzt.

Karsten hat mit seiner Familie gebrochen: mit den Geschwistern, den Eltern und Großeltern sowie zwei Brüdern des Vaters. Vor gut einem Jahr, ausgerechnet an den Weihnachtsfeiertagen, war es wieder einmal zum Streit gekommen.

Er hatte genug von den ausländerfeindlichen Tiraden, den langen Streitgesprächen über Pegida und Fremdenhass. Genug von den beiläufigen Sticheleien gegen seine Homosexualität und die Art, wie Karsten sein Schwulsein lebt.

Eisiges Schweigen nach dem Coming-out

Doch diesmal wollte es der 23-Jährige nicht mehr auf sich beruhen lassen – und ist mit seinem Freund vorzeitig abgereist. Weg aus Dresden und zurück ins Ruhrgebiet, wohin Karsten nach dem Abitur gezogen war, um ein Studium zu beginnen. Vor allem aber, um sich nicht mehr für sein Schwulsein rechtfertigen und verstellen zu müssen.

Karsten war 18, als er sich geoutet hat. Oder besser: als er seine Homosexualität einfach nicht mehr verleugnen wollte. „Ich hatte mich für ein Date zurechtgemacht, und meine Mutter hat schnippisch gefragt: ‚Na, wie heißt sie denn?’“, schildert er die entscheidende Situation. Karsten hätte ganz einfach abwiegeln oder lügen können. Stattdessen aber antworte er mit einer Gegenfrage: „Wieso gehst du davon aus, dass es eine ‚Sie’ ist und kein ‚Er’?“

Damit war es raus, und danach hatte Karstens Mutter eine Woche lang nicht mit ihm gesprochen, umso intensiver aber mit Freunden und Verwandten. Die bedrückende Stimmung wurde zunehmend unerträglich, und Karsten hatte es satt, dass hinter seinem Rücken über ihn, aber nicht mit ihm geredet wurde.

Er stellte seine Mutter zur Rede, hoffte auf Verständnis, versöhnende Worte und ein Bekenntnis zu ihm, ganz gleich, wen er liebt. Stattdessen aber überraschte ihn die Mutter mit Vorwürfen. „Warum hast du uns das nicht schon viel früher gesagt und es uns verschwiegen?“

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„Warum? Weil ich mich nicht getraut habe“, sagt Karsten. Weil er nur zu gut mitbekommen hatte, wie seine Eltern über Schwule und Lesben denken. Zum Beispiel durch ihre abschätzigen Bemerkungen, wenn auf dem Fernsehbildschirm prominente Schwule wie Klaus Wowereit, Guido Westerwelle oder Dirk Bach auftauchten: „War ja klar, dass der sich in den Arsch ficken lässt.“

„War alles nicht so gemeint und ja gar nicht gegen dich gerichtet“, verteidigte sich Karstens Mutter, als er ihr seine Angst vor dem Coming-out zu erklären versuchte. „Meine Eltern haben mir gesagt, dass sie nichts gegen Homosexualität hätten, und auf gewisse Weise stimmt das sicherlich auch“, sagt Karsten. „Aber sie haben etwas gegen das Schwulsein, so wie ich es lebe und verstehe, nämlich auch als etwas Politisches – als etwas, das ich nicht verheimliche, sondern aktiv und selbstverständlich lebe. Sie aber wünschen sich eine Kopie des heterosexuellen Lebens, zumindest dessen, was sie darunter verstehen.“

Ein Leben wie es etwa Karstens Bruder führt: mit Freundin, Heirat, Kind. Darüber wurde in der Familie allenthalben geredet, über Karstens Beziehung hingegen nicht. „Mir haben alle deutlich zu verstehen gegeben, dass meine Liebe zu meinem Freund nicht gleichwertig ist.“

Toleranz, solange das Schwulsein diskret gelebt wird

Als Karstens Vater von einer Kollegin eingeladen wird, die eingetragene Lebenspartnerschaft mit ihrer Freundin zu feiern, bleibt er der Party fern. „Bei allen anderen Kollegen ist er zu den Hochzeiten gegangen, ohne Ausnahme“, erzählt Karsten. Das Verhalten des Vaters hat ihn beschämt – und zugleich im Innersten verletzt, denn es war auch ein Zeichen an den Sohn: Dessen Beziehungen, seine Liebe, seine Homosexualität – der Vater würde das nie als gleichwertig akzeptieren und empfinden.

„Früher wurden Jugendliche wegen ihres Schwulseins von zu Hause rausgeworfen; das war unmenschlich, aber zumindest eine ganz klare Haltung“, sagt Karsten, und man weiß zunächst nicht, wie viel Sarkasmus in diesem Satz eigentlich steckt. Heute aber gäben sich die meisten tolerant – solange das Schwulsein diskret nach bürgerlichen Vorstellungen gelebt wird. Dass Karsten und sein Freund sich für eine offene Beziehung entschieden hatten und er ab und an in der schwulen Sauna auch Sex mit anderen Männern hatte, dafür gab es in der Familie kein Verständnis.

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Angesichts dieser Erfahrungen hätte Karsten sein positives Testergebnis gegenüber der Familie am liebsten verheimlicht. Doch die Beratung in der Aidshilfe wie auch seine Positivengruppe bestärkten ihn darin, das Gespräch zu suchen. Einfacher wurde das Verhältnis dadurch nicht.

Nur wenige Monate später kam es zum Bruch. „Die Vorwürfe und Diskussionen waren sicherlich ein Anlass. Doch meine HIV-Infektion war nicht der alleinige Grund, warum ich letztlich den Kontakt abgebrochen habe.“ Dies klar herauszustellen, ist Karsten wichtig, auch für sich. Und auch gegenüber seiner Familie.

„Ich bin nicht einfach nur schwul, sondern auch noch HIV-positiv und in queeren Projekten aktiv“

Politische Differenzen hatte Karsten in seinem konservativen Elternhaus immer wieder ausgetragen. „Ich hab ja auch kaum was ausgelassen, was ihren Anschauungen widersprach: Ich bin nicht einfach nur schwul, sondern auch noch HIV-positiv und in queeren Projekten aktiv. Ich bin Vegetarier, Mitglied der Grünen und unterstütze ProAsyl“, sagt Karsten und grinst ein bisschen süffisant dabei.

„Damals aber fing das gerade mit Pegida an, und ich habe diese Ausländerfeindlichkeit und diesen offenen Hass, der mit einem Male in meiner Familie zutage getreten war, nicht mehr ertragen. Nicht mehr ertragen wollen“, erklärt Karsten. „Ich habe viele Migranten und Muslime unter meinen Freunden und ich habe meinen Eltern deutlich gesagt: Solange sie diese beleidigen und ausgrenzen, kann ich nicht mit ihnen gemeinsam an einem Tisch sitzen.“

Dass die Familie sein Schwulsein und sein Leben nie wirklich akzeptierte, hat ihn in seiner politischen Haltung nur fester und eindeutiger werden lassen. „Und es hat mich sicherlich auch weiter nach links gerückt“, sagt Karsten.

Was Karsten nicht möchte, ist: sich selbst zu zensieren, nur so viel über sein schwules Leben, seine Sexualität zu erzählen, wie es geduldet und gewünscht ist. „Ich kenne viele Schwule, die ihren Eltern nur das sagen, was keinen Widerspruch auslöst. Die den Konflikt scheuen und deshalb vieles nicht ansprechen oder verheimlichen. Aber wie aufrichtig oder besser: wie verlogen ist dann ein solches Verhältnis zwischen schwulen Söhnen und ihren Eltern? Wenn Eltern beispielsweise nie von sich auf die Idee kommen, sich auch mal nach dem Lebensgefährten zu erkundigen?“

Aber geht es Schwulen und Lesben im internationalen Vergleich in Deutschland nicht wunderbar? Dürfen sie nicht zum CSD die Regenbogenfahne am Rathaus hissen, sich verpartnern und auch sonst jede Menge Rechte genießen?

„Wir werden noch lange nicht als gleichwertig betrachtet“

„Schwulen und Lesben geht es ja angeblich so gut: Wir sind anerkannt, haben fast alle Rechte zugesprochen bekommen. Doch das täuscht.“ Die Debatten um die Ehe für alle, um die Opfer des Paragrafen 175 oder um Homosexualität in den Bildungsplänen machen Karstens Ansicht nach Schwulen und Lesben immer wieder bewusst: „Wir werden noch lange nicht als gleichwertig betrachtet.“

Angela Merkels Verhalten nach dem Massaker auf einer queeren Party in Orlando war für Karsten geradezu symptomatisch. Erst Tage nach dem Attentat und aufgrund von Protesten aus der Community benannte die Kanzlerin überhaupt, wem der Anschlag galt. „Warum aber ist es so ein Problem, offen und selbstverständlich von Schwulen und Lesben zu sprechen?“, fragt Karsten und gibt auch gleich die Antwort: „Weil wir für viele in dieser Gesellschaft immer noch nicht selbstverständlich sind.“

Und alle LGBTI haben, da ist sich Karsten sicher, ein feines Gespür für diese Signale – und seien sie noch so subtil. „Signale, die uns immer wieder deutlich machen: Wir sind Menschen zweiter Klasse. Und man muss sich selbst auch immer bewusst sein, was das mit einem macht.“

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Karsten war zehn Jahre alt, als er bemerkte, dass er auf Jungs steht. Sein Coming-out aber hatte er erst mit 18. „Das waren acht Jahre, in denen ich Angst hatte, dass es in meiner Familie bekannt wird. Wie oft lag ich abends heulend im Bett. Ich habe beim Wichsen versucht an ein Mädchen aus der Schule zu denken, die mir einen Liebesbrief geschrieben hat, aber das ging nicht. Ich habe dann doch wieder an Jungs gedacht. Das hat mich verzweifeln und in Tränen ausbrechen lassen“, erinnert er sich.

„Ich habe das Straight Acting perfekt beherrscht“

Nur nicht auffallen, nur nicht auffliegen. „Ich hatte in der Parallelklasse einen Mitschüler, der wegen seiner Homosexualität gemobbt und auch körperlich angegangen wurde. Er hatte kaum Freunde und ist in den schulischen Leistungen völlig abgesackt. So was sollte mir nicht passieren.“

Aus Angst, für schwul gehalten zu werden, versuchte Karsten so heterosexuell wie möglich zu wirken. „Ich habe das Straight Acting perfekt beherrscht“, sagt er. Bunte Klamotten waren tabu, auch kurzärmlige T-Shirts und Hemden: „Damit man meine Arme nicht sehen konnte, die ich für zu dünn hielt. Ich hatte Angst, dass man mich deshalb als unmännlich und daher schwul abklassifizieren könnte.“

Wachsamkeit und Selbstbeobachtung

Wenn Schwule (und Lesben) unter Freund_innen, in der Familie und Schule immer wieder mit abwertenden Äußerungen zu Homosexualität konfrontiert werden, hinterlässt das Spuren. In der Sozialwissenschaft spricht man hier von internalisierter Homonegativität. Sie führt bei vielen Schwulen und Lesben zu mangelndem Selbstwertgefühl und Selbstisolation und kann psychische Erkrankungen wie Depressionen und Sucht sowie ein erhöhtes Suizidrisiko zur Folge haben.

Father and son at home: Homophobie in der Familie.
Karstens Familie wünschte sich, dass er als schwuler Mann die Kopie des heterosexuellen Lebens führte. Ein Leben wie es etwa Karstens Bruder führt: mit Freundin, Heirat, Kind. „Mir haben alle deutlich zu verstehen gegeben, dass meine Liebe zu meinem Freund nicht gleichwertig ist.“

Sich nicht so angenommen zu fühlen, wie man ist, das bleibe nicht folgenlos, sagt Karsten. „Ich habe mich oft gefragt, warum bei mir Alkohol, Sex und Partymachen meist im Exzess enden.“ Immer bis zum Anschlag und zum Absturz. „Man sollte sich stets bewusst sein, dass ein solches Verhalten nicht immer von ungefähr kommt, sondern es Zusammenhänge geben kann“, reflektiert Karsten seine Erfahrungen. „Das entschuldigt nichts, aber es erfordert Wachsamkeit und Selbstbeobachtung, um rechtzeitig gegensteuern zu können.“

„Wenn Gespräche nichts bringen, muss man irgendwann eine Entscheidung treffen“

Gegensteuern, das hieß für Karsten: sich von seiner Familie zu lösen. „Wenn einen die Menschen, die einem emotional vielleicht am nächsten stehen, wegen HIV oder des Schwulseins ablehnen, wenn man erlebt, dass Diskussionen und offene Gespräche nicht viel bringen, muss man irgendwann eine Entscheidung treffen“, rät er anderen.

Vermisst Karsten seine Familie? „Eigentlich nur an Weihnachten“, sagt er. Und das auch nur, weil alle ständig fragen, wo man die Feiertage verbringt, und hinterher, wie’s denn bei den Eltern war. „Ich denke dann: ‚Mann, ihr könnt mich alle mal!‘ Aber da muss ich eben durch.“

Die halbe Wahrheit

Letztes Weihnachten hat Karsten bei seinem Freund und dessen Familie verbracht. „War eigentlich sehr schön zusammen“, sagt Karsten, kommt dabei kurz ins Träumen und lächelt in sich hinein. „Nein, eigentlich vermisse ich meine Familie nicht“, schiebt er nach.

 „Es gibt manchmal zwar solche Momente, insbesondere, wenn ich mich an schöne Situationen in der Kindheit erinnere, aber ich mache mir dann auch klar: Das ist nur die halbe Wahrheit.“

Die andere Wahrheit bleibt, solange sich seine Eltern und deren Haltung nicht geändert haben: dazu, wie Karsten liebt und lebt, aber auch gegenüber Geflüchteten, Muslim_innen und Migrant_innen.

* Name von der Redaktion geändert

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Von Axel Schock

Freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.