Wider die Scham und die Sünde

Das Gegenstück zu „Queer as Folk“: Die TV-Serie „It’s a Sin“ blickt ins London der 1980er-Jahre zurück, als auch dort die schwule Szene von Aids überrollt wurde. Ein Meisterwerk, das nicht nur von der Vergangenheit erzählt, sondern auch vom Hier und Heute.

Die TV-Serie „It’s a Sin“ zeigt LIEBE IN ZEITEN VON AIDS

Das Gegenstück zu „Queer as Folk“: Die TV-Serie „It’s a Sin“ blickt ins London der 1980er-Jahre zurück, als auch dort die schwule Szene von Aids überrollt wurde. Ein Meisterwerk, das nicht nur von der Vergangenheit erzählt, sondern auch vom Hier und Heute.

(Spoilerwarnung: Dieser Artikel enthält Spoiler zu der Serie „It’s a Sin“)

Es bedarf keiner prophetischen Fähigkeiten, um die Zukunft dieser Serie vorherzusagen: Sie wird bald zum festen kulturellen Gedächtnis der schwulen Community gehören, wie schon „Pose“ oder „Queer als Folk“. TV-Serien also, die ebenfalls queere Geschichten und die Geschichte auf eine Art und Weise erzählen, dass sie selbst bleibende Erinnerungen schaffen.

Szene aus Episode 2 der TV-Serie Gregory, Colin, Richie, Jill and Ash (von links nach rechts) (© RED Production Company & All3Media International)
Szene aus Episode 2 Gregory, Colin, Richie, Jill and Ash (von links nach rechts) (© RED Production Company & All3Media International)

Queere Geschichte als TV-Serie

Denn mit den Figuren in „It’s a Sin“ fiebert man hautnah mit. Bei ihrem Aufbruch in die Erwachsenenwelt und der Euphorie der sexuellen Befreiung und Selbsterfahrung. Man kommt ihnen in den fünf Episoden so nahe! Wir begleiten sie so intensiv durch Höhen und Tiefen, dass man sich dieser queeren Wahlfamilie fast zwangsläufig zugehörig fühlt.

Und vor allem gelingen Russel T Davies, dem Schöpfer dieser TV-Miniserie, immer wieder Szenen und Bilder, die sich förmlich einbrennen und die Zuschauer*innen auf lange Zeit unweigerlich begleiten werden.

Innere Widersprüche aushalten

Auch, weil oft in einem einzigen Bild die sich überlagernden Gefühle wie Aufbegehren und Glück bis hin zu Verzweiflung, Unverständnis und Hoffnung festgehalten sind. Etwa, wenn die Eltern des partyfreudigen Fahrkartenkontrolleurs Gregory nach dessen Tod im Garten einen Scheiterhaufen errichten. Und sie dort sein Bett und alle persönlichen Gegenstände ihres Sohnes verbrennen, die Kinderfotos ebenso wie die Schnappschüsse mit seinen Freunden im fernen London. Als könnten sie damit sein Schwulsein und seine Aidserkrankung auslöschen.

Oder Ritchie, der sich nicht getraut hatte, sein Testergebnis abzuholen, und alle Anzeichen ignorierte. Erst jetzt, da die Krankheit ausgebrochen ist, bringt er den Mut auf, sich – auf seine sehr eigene Weise – seinen engsten Freunden zu offenbaren: „Ich wollte, dass ihr es als erstes erfahrt: Ich werde leben!“

„Ich wollte, dass ihr es als erstes erfahrt: Ich werde leben!“

Olly Alexander (den viele als Frontman der Band Years & Years kennen dürften) legt in diesen kurzen Satz alles hinein, was seine Figur gerade an inneren Widersprüchen auszuhalten hat. Die Erleichterung, sich endlich den wichtigsten Menschen anvertrauen zu können, die Scham, sie so lange angelogen zu haben, und die Angst, dass seine Zukunft nur noch sehr kurz sein könnte. Und dann spricht da auch noch der Trotz aus ihm, sich nicht unterkriegen und nicht die Lebensfreude rauben lassen zu wollen.

Schwule Fernsehgeschichte für ein breites Publikum

Und weil das die Zuschauer*innen nicht unberührt lässt, wird auch diese Szene zu einem unvergesslichen Moment. Russel T Davies versteht nicht nur sein Handwerk, er weiß es vor allem auch meisterhaft einzusetzen – und das heißt für ein breites Publikum zu schreiben, ohne deshalb inhaltliche Kompromisse einzugehen.

Schwules Leben und Lieben bewusst nicht auf HIV und Aids reduzieren

Das war ihm auch schon mit Serien wie „Cucumber“, „A Very English Scandal“ und „Years and Years“ und vor allem natürlich mit „Queer as Folk“ gelungen. Mit letzterer Serie hatte der britische Regisseur und Drehbuchautor vor über 20 Jahren schwule Fernsehgeschichte geschrieben. Sie war so erfolgreich, dass einige Jahre später – ein international noch erfolgreicheres – US-Remake entstand.

Davies hatte seinerzeit bewusst darauf verzichtete, HIV und Aids zu thematisieren, sondern wollte schwules Leben und Lieben feiern, ohne es zugleich durch die Krankheit zu definieren.

Eine neue Welt im London der 80er-Jahre

Für ihn war es nun aber an der Zeit, auch an diese Jahre zu erinnern und sich dabei zugleich auch mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. In Ritchtie, dem smarten gutaussehenden 18-Jährigen, dem sich in der schwulen Szene Londons des Jahres 1981 eine neue Welt eröffnet und der die sich ihm bietenden sexuellen Möglichkeiten ausgiebig genießt, hat Davies offenbar viel seiner eigenen Geschichte hineingepackt. Und auch Jill (Lydia West), Ritchies beste Freundin, die wie er ebenfalls Schauspiel studiert, hat eine reale Entsprechung.

Szene aus Episode 2 der Tv-Serie Roscoe © RED Production Company & All3Media International
Szene aus Episode 2 Roscoe © RED Production Company & All3Media International

Jill wird Mitbewohnerin der ansonsten komplett schwulen WG, die von allen liebevoll „Pink Palace“ genannt wird. Es ist ein kleiner verschworener, bunter Haufen. Neben Ritchie gehört auch Roscoe (Omar Douglas) dazu. Er hat seiner aus Nigeria stammenden, streng religiösen Familie den Rücken gekehrt, als diese Pläne schmiedete, ihn von seiner Homosexualität „heilen“ zu wollen.

Davies zeigt den Umgang mit der Angst vor Aids, mit Homosexualität und Homosexuellenfeindlichkeit

Der blasse Waliser Collin (Callum Scott Howells) beginnt in London eine Ausbildung zum Herrenschneider, gilt als verklemmt und schüchtern, aber hat, wie sich im Laufe der Zeit zeigt, mehr erlebt, als seine Freund*innen ahnen.

Rund um die Clique scharrt Russel T Davies noch eine ganze Reihe von Nebenfiguren. Unter anderem prominent besetzt mit Stephen Fry und Neil Patrick Harris („How I Met Your Mother“). Dadurch eröffnet sich Davies jede Menge Möglichkeiten, den Umgang mit der Angst vor Aids, mit einer Infektion, mit der eigenen Homosexualität sowie der Homosexuellenfeindlichkeit der anderen – wie auch die Reaktionen darauf – zu zeigen.

Mehr als nur ein zeitgeschichtliches Panorama der Aids-Ära

Diese TV-Serie mag dafür viel zu kurz erscheinen – immerhin sind es „nur“ fünf Folgen je 45 Minuten – doch Russel T Davies genügt diese Zeit für ein unglaublich breites, keineswegs nur zeitgeschichtlich Panorama. Denn „It’s a Sin“ (benannt nach dem Hit der Pet Shop Boys) fokussiert sich nicht ausschließlich auf die verheerende Auswirkung der Aidspandemie im London zwischen 1981 und 1991.

„Ich wollte kein Drama über Sterbebetten schreiben“

„Ich wollte kein Drama über Sterbebetten schreiben“, erklärte Davies in einem Interview, „sondern ich wollte diese Ära wieder für mich zurückgewinnen und mich mit Freude an diese Leben erinnern.“

So geht es in „It’s a Sin“ einerseits beispielsweise um die berechtige Angst vor der Ausgrenzung – selbst durch Kolleg*innen und die Familie oder um Angst vor dem Sterben. Die Serie erzählt aber auch auf vielen verschiedenen Ebenen davon, wie Homosexuellenhass funktioniert und wirkt. Aber auch wie man sich verbünden und stärken kann. Sie zeigt, was es braucht, um die eigene Sexualität positiv annehmen und leben zu können. Und welchen Wert Freund*innenschaft und Mitmenschlichkeit haben. Und das alles mit jeder Menge Empathie und Humor.

Szenenbild aus Episode 1 der TV-Serie „It’s a Sin“
Szenenbild aus Episode 1 der TV-Serie „Richie“

TV-Serie bringt Themen wie Coming-out, HIV und PrEP in die Medien

Und so ist „It’s a Sin“ zwar eine Serie, die in einem lange zurückliegenden Jahrzehnt spielt. Aber weil sie überzeitliche Themen verhandelt, kann die Serie doch im Hier und Heute andocken. Dazu trägt bei, dass die Serienmacher*innen darauf verzichtet haben, penetrant und überdeutlich typische Alltagsgegenstände jener Ära zu platzieren.

Großer Erfolg unter jungen Zuschauer*innen

Breite Schulterpolster, New-Wave-Outfits und Walkman sucht man hier also fast vergebens. Das erleichtert auch dem jungen Publikum von heute, sich mit ihren Altersgenoss*innen der 80er- und 90er-Jahren zu identifizieren.

In Großbritannien hatte die Serie gerade unter jungen Zuschauer*innen einen enormen Erfolg. Und hatte einen nicht gering zu schätzenden Nebeneffekt: Themen wie Coming-out, HIV, heutige Behandlungsmöglichkeiten und PrEP wurden breit in den Medien diskutiert – und die HIV-Test-Zahlen stiegen nach der Ausstrahlung um mehr als 400 Prozent.

Eine der eindrücklichsten und unvergesslichsten Szenen der ganzen TV-Serie hat sich Davies übrigens für den Schluss aufbewahrt. Jill trifft auf einer Hafenpromenade auf der Isle of Wight mit Ritchies Mutter zusammen. Den Freund*innen war bislang verwehrt worden, ihren Freund noch einmal zu sehen.

Lebensbejahende Feier des queeren Selbstbewusstseins

Nun erfährt Jill, dass Ritchie bereits gestorben ist – einsam und abgeschirmt im Schoße der Familie. Russel T Davies hat für Jill hier einen Monolog geschrieben, der es in sich hat. Er kommt einer Generalabrechnung gleich. Er formuliert vor allem aber eine der zentralen Botschaften, die Davies mit dieser TV-Serie vermitteln will. Es ist ein Plädoyer gegen die Scham und zugleich eine Anklage all jener, die Menschen dazu bringen, sich für ihre Sexualität oder für eine HIV-Infektion zu schämen.

Ein Plädoyer gegen Scham

Denn erst „die Scham macht das Gefühl, es verdient zu haben“, sagt Jill. Ohne die Scham wäre ein freierer Umgang mit der sexuellen Identität wie auch mit einer Infektion möglich. So aber kommt zur Scham vielleicht sogar noch die Schuld hinzu, weil man das Virus womöglich an andere weitergegeben hat.

Das macht „It’s a Sin“ zu einem ebenbürtigen Gegenstück zu „Queer als Folk“. „It’s a Sin“ ist aber auch eine ungemein lebensbejahende Feier der Selbstermächtigung und des queeren Selbstbewusstseins.


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