Für einen Popstar kann es bisweilen von Vorteil sein, einen schwulen Bruder zu haben. Christopher Ciccone schleppte Ende der 80er Jahre seine ältere Schwester Madonna in die New Yorker Ballroom-Szene mit, jene sehr spezielle Undergroundkultur, die sich die queere, schwarze Community entwickelt hatte. „Strike a pose, there’s nothing to it“ – Was Madonna sich dort abgeguckte, machte sie dann im Video zu „Vogue“ zum massentauglichen Popphänomen.
Die Ballroom-Szene hat sich davon offenbar nicht korrumpieren lassen und auch den Erfolg von Jennie Livingstons legendärer Kinodokumentation „Paris is burning“ überstanden.
Denn auch im Los Angeles von heute scheinen sich immer noch schwarze Drags, Transgender und Schwule zu clanartigen Wahlfamilien, sogenannten „Houses“ zusammenschließen und sich mit unbändigem Ehrgeiz und Perfektionismus auf ihre Wettbewerbe vorzubereiten.
„Die ganze Szene ist in Amerika heute genauso lebendig wie in den Achtzigern, aber immer noch sehr underground. In 15 Städten gibt es diese Veranstaltungen. In New York gibt es die größte. Dort kommen teilweise 5000 Besucher. Aber es gibt auch kleinere, charmantere, wie die in Los Angeles“, erzählt der – übrigens heterosexuelle – US-Regisseur Sheldon Larry. Dort, in der Ballroom-Community seiner Heimatstadt, hat er und auch die Jungs und Mädels gefunden, die nun in seinem Filmmusical „Leave it on the Floor“ gewissermaßen ihre eigenen, auf Hochglanz polierten Geschichten singen, spielen und tanzen.
Wie schon vor 20 Jahren in New York werden auch hier schillernde Bälle veranstaltet, in deren Mittelpunkt das große Schaulaufen auf dem Catwalk steht. Heidi Klums Model-Casting ist wahrlich ein lahmer Dorfspaziergang im Vergleich zu diesen gleichermaßen parodistischen wie todernsten Schönheitswettbewerben, bei denen die beste Pop-Prinzessin, der authentischste Wall-Street-Banker oder die beste Glamour-Queen prämiert werden.
Die Ballroom-Events werden so zu einem queeren Paralleluniversum zu der von weißen Heteros dominierten Welt draußen.
Hier also findet der 22-jährige Bradley (Newcomer Ephraim Sykes) Zuflucht, nachdem ihn seine religiöse Mutter hochkant vor die Tür gesetzt hat. Dumm auch, wenn Mutti einen dabei erwischt, wenn man gerade durch schwule Pornowebseiten surft.
Die schrille, schillernde Welt überfordert ihn zunächst, doch die queere WG, in die er eher zufällig hineinstolpert, wird ihm bald zur Wahlfamilie. Vom verstören Streetkid zum Catwalkstar ist es in Sheldon Larrys etwas vorhersehbaren Geschichte nicht weit, und auch bis zum ersten unschuldigen Kuss dauert es nicht lange.
Weitaus mehr Aufmerksamkeit als auf die Ausgestaltung der Figuren hat Larry hingegen den schlagfertigen Dialogen und vor allem den Shownummern gewidmet. Die elf von Beyoncé-Choreograf Frank Gatsin Jr. tänzerisch umgesetzte Originalsongs lassen durchaus die Energie spüren, die die Drag- und Ballszene auszeichnet. Vernachlässigt werden hingegen der soziale Sprengstoff und die Subversivität , die gleichermaßen in diesem Underground-Phänomen stecken. Welchen Konflikten, Anfeindungen und sogar Gewaltattacken die Kids wegen ihres Schwul- und/oder Andersseins ausgesetzt sind, zeigt ziemlich am Schluss die wohl packendste Szene des ganzen Films. Da treffen nämlich auf einer Trauerfeier die queere Wahl- und die homophobe Blutfamilie einer verstorbenen Drag Queen zusammen und liefern sich singend einen Battle darüber, wer die Hoheit über die Identität der/des Toten haben darf und ob Eppie im Kleid ihre letzte Ruhe finden darf – oder als Shawn im Anzug beigesetzt wird.
(sho)
„Leave It on the Floor“. USA/Kanada 2011. Regie: Sheldon Larry, mit Ephraim Sykes, Philipp Evelyn, Miss Barbie-Q, Andre Myers. 101 Minuten, OmU. Kinostart: 18.10.
Fotocredit: Salzgeber Medien
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