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Zum Überleben auf den Strich – die andere Seite des Geschäfts mit dem Sex

Am Anfang steht  die Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch für etliche Migranten und Flüchtlinge bleibt am Ende nur der Strich, um Geld zu verdienen.

In jeder deutschen Metropole gibt es Jungs, die anschaffen gehen. Bundesweit dürften es mehrere tausend sein. (Foto: privat)
In jeder deutschen Metropole gibt es Jungs, die anschaffen gehen. Bundesweit dürften es mehrere tausend sein. (Foto: privat)

Im Grunde ist es nur ein alter, schnulziger Schlager. Doch in dieser Bar mit ihrem etwas in die Jahre gekommenen kitschigen Dekor klingt Conny Froboes’ Lied über die Sehnsucht der „Zwei kleinen Italiener“ mit einem Male erstaunlich aktuell. Radu* und Petre* fällt das allerdings nicht auf. Für sie ist das Lied nur eine fremdklingende Kneipen-beschallung; um den Text zu verstehen sind ihre Deutschkenntnisse viel zu dürftig.

Wenn Petre etwas nicht versteht, überspielt er die Situation mit einem jovialen „Mein Freund!“ und schlägt kumpelhaft auf die Schulter seines Gegenübers. Manchmal kann Radu auch etwas dolmetschen. Er radebrecht dann in einem abenteuerlichen Mix aus rumänisch, deutsch und englisch sowie ausholender Gesten. Tiefschürfende Gespräche sind damit nicht zuführen, aber es reicht aus, um mit den Freiern das Notwendige zu verhandeln. An diesem Abend aber sehen die Geschäfte eher schlecht aus. In der „Blue Boy Bar“, einem traditionsreichen Berliner Stricherlokal im Schöneberger Schwulenkiez, übersteigt das Angebot deutlich die Nachfrage. Petre ist in die Offensive gegangen, hat einem Gast erst lange angeflirtet und mittlerweile lässig den Arm um dessen Hals gelegt.

Petre und Radu, beide Anfang Zwanzig, sind vor knapp einem Jahr aus einer rumänischen Kleinstadt nach Deutschland gekommen. Was sie an Geld besaßen, hätten sie ins Bahnticket investiert, erzählt Radu. Aber irgendwie sei dann doch alles ganz anders gekommen, als sie es sich ausgemalt hatten. Dass er mit seinem besten Jugendfreund hier nun anschaffen gehen würde, stand jedenfalls nicht auf dem Plan. Petres neuer Bekannter ist derweil auf Tuchfühlung gegangen und erkundet mit seiner Hand  den Körper des jungen Mannes unter dem enganliegenden T-Shirt  Ob es zu einem Handel kommt, ist noch offen. Radu beobachtet seinen Freund amüsiert dabei und lässt zugleich unruhig seinen Blick durchs Lokal schweifen. Die Chancen, die Nacht im Bett eines Freiers zu verbringen, sinken zunehmend. Radu wird womöglich bald weiterziehen, in der Hoffnung in den Stricherkneipen um die Ecke mehr Erfolg zu haben.

„Freierfreie Zone“ in den Stricherprojekten

Jungs wie Radu und Petre gibt es in jeder deutschen Metropole. In München und Hamburg schätzt man ihrer Zahl auf jeweils über 500, bundesweit dürften es mehrere Tausend sein. Und was die modische Kleidung und das gepflegte Erscheinungsbild der Jungs, wie sie in der Blue Boy Bar anzutreffen sind, nicht vermuten ließe: Der Großteil von ihnen ist obdachlos. Wenn sie nicht bei Kumpels oder Freiern schlafen können, bleibt nur die Parkbank – oder Stricherprojekte wie KISS in Frankfurt, Subway in Berlin oder das BASIS-Projekt in Hamburg.

Derzeit stammen die Jungs überwiegend aus Rumänien und Bulgarien. (Foto: Fotolia)
Derzeit stammen die Jungs überwiegend aus Rumänien und Bulgarien. (Foto: Fotolia)

Das Subway ist nur wenige Gehminuten von der „Blue Boy Bar“ entfernt. Wenn dort um zehn Uhr morgens die Pforten geöffnet werden, stehen die ersten jungen Männer bereits vor der Tür: übernächtigt, erschöpft und manchmal durchgefroren. Acht Bettstellen bietet das Subway, wo sich die Jungs ausschlafen können. Andere kommen im Laufe des Tages, um hier zu duschen, etwas Warmes zu essen, mit anderen zu reden, Tischtennis zu spielen oder ihre Wäsche zu waschen.

„Freierfreie Zone“ nennt Helmut Wanner das. Für die meisten ist die der einzige Ort, an dem sie sich weder belästigt, ausgegrenzt oder kontrolliert fühlen müssen. Vor ein paar Jahren waren es mehrheitlich Kosovo-Albaner, die auf der Suche nach einem besseren, anderen Leben nach Deutschland gekommen waren und auf dem Strich gelandet sind. Derzeit machen Rumänen und Bulgaren rund 90 Prozent der Männer aus, die das Hilfs- und Beratungsangebot nutzen, berichtet Projektmitarbeiter Stefan Schröder. Saskia Reichenecker vom Stuttgarter Café Strichpunkt, das ein ähnliches Konzept wie Subway verfolgt, begegnet bei ihren Streetwork-Einsätzen in der Szene derzeit hingegen zunehmend Männern aus nordafrikanischen und arabischen Staaten. Viele von ihnen sind Flüchtlinge und stecken in langwierigen Asylverfahren. Anderen wurde der Antrag bereits abgelehnt und sie leben nun illegal hier. Weil sie keiner legalen Arbeit nachgehen können, bleibe vielen von ihnen oft nur der Weg in die Kriminalität und ins Drogenmilieu oder auf den Strich zu gehen.

Weil viele als Flüchtlinge noch in Asylverfahren stecken und nicht legal arbeiten dürfen, verdienen sie Geld auf dem Strich. (Foto: Fotolia)
Weil viele als Flüchtlinge noch in Asylverfahren stecken und nicht legal arbeiten dürfen, verdienen sie Geld auf dem Strich. (Foto: Fotolia)

Da in arabisch-muslimisch geprägten Ländern nicht nur Homosexualität, sondern auch Prostitution verboten ist, ist für die Sozialarbeiter vom Café Strich-Punkt der Zugang zu diesen Männern besonders schwer. Selbst ihren besten Freunden wagen sie nicht zu erzählen, wie sie sich über Wasser halten. Dieses Schicksal teilen sie mit den Jungs und Männern aus Roma-Familien, in deren Kultur jegliche Form von Schwulsein tabuisiert, ja nicht einmal existent ist. Sie alle kommen nach Westeuropa, in der Hoffnung auf ein Leben, das nur besser werden kann, als jenes, das sie hinter sich lassen. Doch dieser Traum zerplatzt meist schnell. Die erhofften Jobs auf dem Bau oder als Reinigungskraft gibt es nicht oder nur für einen Hungerlohn. Der Strich ist dann manchmal die letzte Möglichkeit, sich durchzuschlagen. Dabei sind die Preise für diese Sexdienste in den vergangenen Jahren aufgrund des hohen Angebots immer weiter gefallen. Ein Teufelskreis.
 

Das Leben auf dem Strich hinterlässt oft seine Spuren 

Den Absprung in ein bürgerliches Leben mit einem richtigen Job schaffen nur die wenigsten. Während Escorts in der Regel mit Eigenverantwortung und selbstbewusster schwuler Identität der Sexarbeit nachgehen, bieten diese Männer ihre Dienste aus der puren Not heraus an. Manche verstehen sich als heterosexuell, haben vielleicht sogar Frau und Kind. Andere haben bislang nicht die Chance gehabt, sich frei von Zwang und Not ihren eigentlichen sexuellen Wünschen und Bedürfnissen bewusst zu werden.
Das Leben auf dem Strich bleibt nicht folgenlos. Bei vielen der Männer, die in diese für sie kaum entrinnbare Sackgasse geraten sind, führt die permanente Verstörung, der Ekel und der daraus resultierende Selbsthass zu Spiel- und Drogensucht, Alkoholismus, autoaggressivem Verhalten und anderen psychischen Störungen. Das Leben auf der Straße – und ohne Krankenversicherung – zeigt auch gesundheitliche Folgen. Projekte wie Subway versuchen, nicht zuletzt auch mit Hilfe von Sprachvermittlern aus den Herkunftsländern der Männer, Vertrauen aufzubauen, Gespräche und Hilfe in Notsituationen anzubieten. Dazu gehört auch die Aufklärung über sexuell übertragbare Krankheiten und Safer Sex. Manchmal sei nicht einmal ein Grundwissen dazu vorauszusetzen, erklärt Wanner.

Die Stricherprojekte klären auch über sexuell übertragbare Krankheiten und Safer Sex auf. (Foto: Fotolia)
Die Stricherprojekte klären auch über sexuell übertragbare Krankheiten und Safer Sex auf. (Foto: Fotolia)


„Dass seit Jahresanfang nun auch für Rumänen und Bulgaren europaweit die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt, bietet zumindest einen Ausweg: Prostitution bleibt nun nicht mehr zwangsläufig die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen, wir können sie auch in legale Arbeit vermitteln“, sagt Saskia Reichenecker. Zumindest theoretisch. Denn in der Realität, weiß Helmut Wanner aus Erfahrung, bietet der Arbeitsmarkt für diese Männer, die in der Regel keinerlei Berufsausbildung haben und häufig sogar Analphabeten sind, so gut wie keine niedrigschwelligen Arbeitsgelegenheiten.

*Namen geändert

Von Axel Schock

Freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.