Kategorien
Gesundheit & Safer Sex

Zwanghafte Rituale

Was für andere wie ein verrückter Spleen wirken mag, ist für Oliver Sechting eine nachhaltig psychische Beeinträchtigung: Er leidet an sogenannten „magischen Zwangsgedanken“. Mit dem bemerkenswerten Dokumentarfilm „Wie ich lernte die Zahlen zu lieben“ wagt er nun den Schritt in die Öffentlichkeit und macht anderen Betroffenen damit Mut. Von Axel Schock.

172_Wie ich lernte_01_Oliver Sechting
Oliver Sechting spricht offen über seine Zwangserkrankung. (Foto: Missing Films)

Die 58 allein ist schon schlimm genug. Wenn dann aber noch eine 6 oder 9 hinzukommt, rast Oliver Sechtings Puls in die Höhe. Wer versteht, was in diesem Moment in seinem Kopf vorgeht, kann nachvollziehen, weshalb er nun panisch wird. Diese Zahlenkombination nämlich ist geradezu tödlich. So fühlt es sich für ihn zumindest an. Mit einer 7, oder noch besser einer 100, wäre alles wieder im Lot. Oliver könnte auch einen Brillianten schlucken, damit vermag er selbst die bedrohlichste Zahlenkombination auszugleichen. In seiner Kindheit hat der Sohn immer wieder auf diese Notlösung zurückgriffen – zum Leidwesen der Eltern, die ein Juweliergeschäft führten.

Sonderbare Angewohnheiten hat jeder, skurrile Spleens und Angewohnheiten bieten immer eine gute Geschichte, die man gerne zur Unterhaltung weitererzählt. Wer davon betroffen ist, kann darüber allerdings nicht lachen. Ganz gleich ob Oliver Zahlen auf Geldscheinen und Straßenschildern sieht oder Treppenstufen zählt: Diese Zahlen beherrschen seinen Alltag, mal mehr, mal wieder schlimm. Auch Farben können diese Macht auf ihn ausüben. Zwangsstörungen bzw. Zwangserkrankungen werden diese psychischen Beeinträchtigungen genannt, unter der rund zwei Prozent aller Erwachsenen leiden.

Und sie leiden nicht nur an den Auswirkungen dieser Zwänge auf ihren Alltag und durch die ganz direkt erlebten Ängste, sondern auch an der Angst vor den Reaktionen der Mitmenschen. Wer möchte schon als „verrückt“ gelten, ausgelacht und ausgrenzt werden?

Umso mutiger ist daher wie der Berliner Oliver Sechting in der Dokumentation „Wie ich lernte die Zahlen zu lieben“ zum Thema macht. Eigentlich hatte der 39-jährige Diplom-Sozialpädagoge bei der Schwulenberatung und Filmschaffende, der seit einigen Jahren in einer Partnerschaft mit Rosa von Praunheim lebt, eine ganz anderen Film geplant. Gemeinsam mit Ko-Regisseur Max Taubert wollte man die queere Künstlerszene New Yorks erkunden. Doch Olivers Erkrankung sabotierte nicht nur die Dreharbeiten. Auch die enge Freundschaft der beiden Filmemacher geriet an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Kurzerhand machte man die Auswirkungen der Zwangsstörungen selbst zum Thema und rückten sie in den Vordergrund. Zwar finden sich im Film noch Rudimente des ursprünglichen Projektes – Interviews mit der Drag-Diseuse Joey Arias, mit Ultra Violet , dem Star aus Andy Warhols Factory und mit Filmemachern wie Ira Sachs („Keep The Lights On“) und Jonathan Caouette („Tarnation“). Die Gespräche aber drehen sich nun weniger um Kunst, denn um Krankheit, Zwänge, Selbstliebe und Selbstwertgefühl. Tom Tykwer etwa offenbart seine persönliche Zwanghaftigkeit: wenn er sein Apartment verlässt, wird er exakt darauf achten, dafür zehn Schritte zu benötigen. Notfalls würde er einen extra Schritt einlegen, um auf die gerade Zahl zu kommen.

Wie sich die Zwangsstörung auf Olivers Leben auswirkt, lässt er in einer nächtlichen Momentaufnahme miterleben. Er filmt sich selbst dabei, wie er allein an einer Kreuzung steht, seltsame Gestalten lungern in der Nähe herum, aber Oliver kann die Strasse nicht überqueren. Auf der gegenüberliegenden Gebäude steht eine unpassende Hausnummer. Die vorbeifahrenden Autokennzeichen machen die Sache nur schlimmer. Findet sich vielleicht eine passende Dollarnote in der Hosentasche, die ihn aus dieser verzweifelten Schockstarre erlösen könnte?

In dieser Szene wie auch in den eingestreuten Videotagebüchern vermag Sechting nicht nur eindringlich und anschaulich die Zwänge an sich zu erklären, er beweist zudem in solchen schwierigen Situationen Sinn für Humor. Sogar den Ursachen seiner Erkrankung geht er auf den Grund. Im gemeinsamen Hotelzimmer schildert er seinem Regiekollegen Max, wie er nach dem frühen Tod des Vaters abends ängstlich überprüfte, ob auch wirklich alle Türen und Fenster im Haus geschossen waren. Später mussten die Türklinken alle nach oben gedrückt sein. Dann mussten es mehrere Rundgänge hintereinander sein. Immer komplizierter wurden diese Rituale – bis er sie mehr und mehr in den Kopf hineinverlegte, zwischen guten und schlechten Farben und Zahlen unterschied, die sich endlos kombinieren, in ihrer Wirkung potenzieren oder auch neutralisieren lassen.

Allein durch diese Schilderung wird einem als Zuschauer schwindelig. Wie muss es sich erst anfühlen, wenn man direkt davon betroffen ist? Mit ihrem Film gelingt es dem Filmemacherduo nicht nur von ihrer Freundschaft zu erzählen, die diese Krise überstanden hat, sondern das Phänomen der Zwangstörungen auch als Nichtbetroffener zu verstehen. Für Sechting wurde dieses ungeplante filmische Coming-out als Zwangserkrankter auch ein Stück Selbsttherapie. Er hofft mit diesem Dokumentation auch anderen Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen Mut zu machen, „zu sich selbst zu stehen, selbstbewusst durchs Leben zu gehen“, wie er sagt. „Therapien können helfen, aber nicht immer heilen. Darüber kann man verzweifeln oder man versucht, das Beste daraus zu machen. Als Betroffener die eigene Geschichte zu erzählen, ist ein guter Schritt, sich und andere aus einer verdunkelten Ecke des Lebens herauszuholen und ins Licht zu stellen.“

 

„Wie ich lernte die Zahlen zu lieben“. Regie: Oliver Sechting, Max Taubert. D 2014, 88 Min.

Offizielle Webseite zum Film: http://www.zahlenliebe.de/

Kinotour in Anwesenheit von Oliver Sechting & Max Taubert

am 21.11., Bochum, blicke filmfestival des ruhrgebietes

am 22.11., Wiesbaden, Exground Filmfestival

26.11., Köln, Exposed Filmfestival

28.11., 20 Uhr, Berlin, Filmrauschpalast 

ab 27.11. regulär im Kino, u. a. 27.11-10.12., Film Rausch Palast Moabit, Berlin sowie Filmhaus Köln

Von Axel Schock

Freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.