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„Ein paar Kilo zunehmen ist absolut okay“ – Körperbild-Stress bei Schwulen

Früher wog Billy rund 40 Kilo mehr. Wie er sich in dieser Zeit selbst gesehen und was er in der Szene erlebt hat, beschreibt er im Interview. Und auch wenn der Sport heute zu seinem Leben gehört, weiß er, dass ein attraktiver Körper nicht alles ist!

Früher wog Billy rund 40 Kilo mehr. Wie er sich in dieser Zeit selbst gesehen und was er in der Szene erlebt hat, beschreibt er im Interview. Und auch wenn Sport heute zu seinem Leben gehört, weiß er, dass ein schlankerer Körper nicht alles ist!

Model-Maße? Fehlanzeige! Billy, hast du das auch schon mal bei dir erlebt?
Ich hatte schon von klein auf immer mehr auf den Rippen. Mit 16 nahm ich dann immer mehr zu und wog mit 25 – das war 2008 – bei einer Größe von 1,80 Meter schließlich 130 Kilo. Die Gründe für die Gewichtszunahme waren vor allem Familienprobleme und die Selbstfindungsphase, nachdem ich erkannt hatte, dass ich schwul bin.

Was ist passiert?
Ich habe im wahrsten Wortsinne damals sehr viele Probleme mit Süßigkeiten in mich hineingefressen, gerade auch während meines Coming Outs. Meine Mutter kam sofort damit klar, mein Vater aber nicht so. Ich musste also doppelt lernen, mich zu akzeptieren und sagen können: Ich bin schwul und ich bin dick. Als ich selbst zu mir stehen konnte, ging ich zum ersten Mal in einen Schwulen-Club und da spürte sofort die Blicke und den Druck.

Was ist dir dort genau begegnet?
Intoleranz! Auch wenn man sich nach außen hin tolerant gibt, untereinander sieht es oft ganz anders aus. Dickere Menschen zum Beispiel bekommen Abwertung öfters zu spüren. Jetzt kein Kommentar wie: „Du fette Sau!“, sondern eher indirekt, aber unmissverständlich. Alles, was nicht in einem bestimmten Rahmen ist, wird schnell ausgegrenzt. Ich habe einfach nicht dem schwulen Idealbild entsprochen! Und es hat sich auch kaum einer für mich interessiert. Das war bei Datingportalen sehr ähnlich.

War es für dich in der Szene also generell schwerer?
In der gesamten Gesellschaft wird viel auf Aussehen geachtet, keine Frage. Die Akzeptanz in der Szene ist aber schon eingeschränkter. Im schulischen oder beruflichen Umfeld habe ich dagegen keine so negative Beurteilung meines Körpers erlebt.

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Billy heute: Sein Gewicht liegt zwischen 92-95 Kilo.

Heute siehst du anders aus: Was ist passiert?
Anfangs war der Grund für die Gewichtsabnahme einfach ein extremer Sommer. Da konnte ich wegen der Hitze nur wenig essen, war viel in Clubs unterwegs und trank viel Wasser. So verlor ich fast 40 Kilo und wog am Ende 82 Kilo. Ich hatte wirklich alle Kleidergrößen durch. Ins Fitness-Studio bin ich erst ab diesem Zeitpunkt gegangen.

Wurde der Sport nicht zum Stress für dich?
Nein, Sport war und ist kein Stress für mich: Die Trainingseinheiten machen mir Spaß und ich konnte soziale Kontakte knüpfen. Davor spielte ich immer nur stundenlang zuhause am PC und habe mich auf die von der Umwelt vermittelten eigenen Defizite konzentriert. Mir persönlich hat der Sport geholfen, aus der Trägheit rauszukommen und den Blick zu weiten.

Der Sport gehört für mich jetzt zum Leben wie das Zähneputzen. Es ist aber nicht so, dass ich meinen ganzen Tag danach tackte oder meinen Essensplan allein vom Sport diktieren lasse. Der Sport ist für mich einfach ein schöner Ausgleich zum Alltag, ein Hobby. Aber natürlich versuche ich mit dem Sport auch mein Körpergewicht zu halten. Klar!

Was hat sich mit diesem „neuen Ich“ in der Szene für dich geändert?
Durch die Gewichtsabnahme und den Muskelaufbau merkt man schon, wie die Attraktivität steigt. Ich wurde seither sehr oft angeschaut, angesprochen, angeschrieben, auch von Leuten, die vorher nichts von einem wissen wollten. Ich wurde einfach anders wahrgenommen. Da nimmt das eigene Wohlbefinden natürlich zu und stärkte mein Selbstbewusstsein. Selbst wenn es oberflächlich ist, aber wer sagt schon „Nein“ zu netten Kommentaren?

Bist du durch diese Erfahrung selbst zum Aufreißer geworden?
Nein, ich war schon immer zurückhaltend. Ich war nie der Typ, der durch die Tür kommt und alle Blicke richten sich auf einen. Allerdings traue ich mich jetzt schon mehr, Kontakt zu anderen zu suchen – durch Augenkontakt, anlächeln oder ich spreche jemanden an. Das ist natürlich jetzt einfacher.

Also: „Körper gut, alles gut“?
Ich bin mit einem langsamen Stoffwechsel eher veranlagt, dick zu werden. Ich bin also von Haus aus kein hagerer und sportlicher Typ. Auch wenn ich Sport gerne mache: Er hilft mir, mein Gewicht zu halten. Deshalb gibt es auch eine gewisse mentale Grenze. Wenn ich da drüber komme, werde ich alles tun, um wieder abzunehmen. Insofern ist schon noch ein gewisser Druck vorhanden. Aber ich setze mich nicht unter Stress: Ein paar Kilo zunehmen ist absolut okay. Mein Gewicht hat sich in den letzten zwei Jahren auch gut eingependelt.

„Sich selbst so anzunehmen wie man ist, würde vielleicht funktionieren, wenn das Umfeld Akzeptanz leben würde“

Vielen geht es so, dass sie sich wegen ihres Aussehens unter Druck setzen. Was würdest du sagen: Was sollte man mit Blick auf den eigenen Körper niemals tun?
Es ist natürlich nicht immer einfach, gelassen mit seinem Aussehen umzugehen und nett zu sich selbst zu sein. Da  braucht man schon einen starken Charakter und ein gutes Selbstbewusstsein, damit man mit dem eigenen Übergewicht keine Probleme hat. Sich selbst so anzunehmen wie man ist, würde vielleicht funktionieren, wenn das Umfeld Akzeptanz leben würde. Oft hat aber das Umfeld mehr Probleme und nicht man selbst.

Man sollte deshalb nie so weit gehen, beispielsweise Schönheitschirurgie aus allein ästhetischen Gründen zu machen. Kein Verständnis habe ich auch für Typen, die für den Muskelaufbau bestimmte Präparate wie Anabolika oder Testosteron schlucken. Es gibt krasse Nebenwirkungen und man legt sich einen Körper zu, der nicht mehr wirklich der eigene ist. Zugegeben: Mit zunehmenden Alter wird das vielleicht schwieriger, das Gewicht zu halten. Aber dann sollte man auch wissen, worauf es im Leben ankommt, und dass der Körper nicht mehr mit an oberster Stelle steht.

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„Die Akzeptanz in der Szene ist aber schon eingeschränkter.“

Das klingt erst mal nach: „Weiter Weg“ und „Viel zu tun“. Was könnte vielleicht als erstes helfen?
Ich find’s toll, wenn Dicke einfach präsent auftreten. Denn durch das Auftreten kann ein Mensch auch bestechen – nicht allein durch das Aussehen seines Körpers. Ich weiß selbst: Es ist vielleicht schwer, aus sich herauszukommen, wenn man schüchterner ist. Gerade wenn man schwul und etwas dicker ist. Es lohnt sich aber. Und selbst wenn es einem immer vermittelt wird: Die Figur ist nicht alles! Ein schöner Körper bringt einem nämlich auch nichts, wenn man keine drei Sätze sprechen kann und einfach keine Ausstrahlung hat! Und viele, die so kritisch mit anderen umgehen, sollten sich erst mal selbst im Spiegel anschauen. Die sehen bei Tageslicht auch nicht so ideal aus …

Nach all dem Körperbild-Stress: Wie geht es dir selbst heute?
Ich bin reifer und stärker geworden, mein Coming Out liegt lange zurück. Ich bin einfach mit der Lebenserfahrung gewachsen. Mein Körper steht deshalb nicht mehr so im Zentrum wie früher. Ich freue mich zwar, wenn ich durch den Sport mein Gewicht halten kann. Momentan sind es so 92 bis 95 Kilo. Und damit bin ich sehr zufrieden. Wenn von anderen dann noch positive Resonanzen kommt, ist auch schön. Ganz klar!

Aber ich weiß selbst: Jedem kann man nicht gefallen. Es gibt immer noch welche, die sagen „Du hast zu viel auf den Rippen!“. Ich bin eben kein Spitzensportler. Dieses vermeintliche Ideal strebe ich aber auch nicht an. Da sollte jeder realistisch sein. Wichtig ist mir, dass ich mich selbst im Spiegel sehen kann und mit mir klarkomme. Und letztlich kommt es ja nicht nur auf den Body an: Was bringt mir ein super Körper, wenn es innen drin faul ist? Ich fühle mich heute rundum wohl und das ist die Hauptsache!

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Früher und heute: Mit 25 wog Billy bei einer Größe von 1,80 Meter schließlich 130 Kilo.

Von Michael Mahler

Längere Zeit Ehrenamtler bei der AIDS-Hilfe Tübingen-Reutlingen, 2015 - 2017 Volontär beim Katholischen Sonntagsblatt im Bistum Rottenburg-Stuttgart