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„Mein wunderbares West-Berlin“: Sehenswerte Chronik des schwulen Lebens von Kriegsende bis zum Mauerfall

Was Berlin über die Landesgrenzen hinaus für LGBT so attraktiv und anziehend macht, hat sich nicht über Nacht entwickelt. Wie sich das Leben für die Schwulen nach Kriegsende in der geteilten Stadt darstellte, zeigt Jochen Hick in seinem neuen Film “Mein wunderbares West-Berlin“.

Was Berlin über die Landesgrenzen hinaus für LGBT so attraktiv und anziehend macht, hat sich nicht über Nacht entwickelt. Wie sich das Leben für die Schwulen nach Kriegsende in der geteilten Stadt darstellte, zeigt Jochen Hick in seinem neuen Film “Mein wunderbares West-Berlin“.

Berlin ist Deutschlands schwule Hauptstadt und eine der wichtigsten queeren Metropolen der Welt. Für diese Feststellung muss man freilich kein verblendeter Lokalpatriot sein. Selbst das Tourismusbüro der Stadt preist Berlin ganz offiziell an als „Epizentrum der Schwulen- und Lesben-Szene in Europa“. Ob Institutionen wie das Schwule Museum*, der schwule Buchladen Prinz Eisenherz und das Schwulenzentrum SchwuZ oder der Teddy Award der Berlinale. Nicht zu vergessen die kaum zu überschauende, sich ständig verändernde Landschaft der queeren Subkultur. All das, was Berlin über die Landesgrenzen hinaus für LGBT so attraktiv und anziehend macht, hat sich freilich nicht über Nacht und nicht von allein entwickelt. Und konnte wohl auch nur in diesem speziellen Biotop der Mauerstadt entstehen. Wie sich das Leben für die Schwulen nach Kriegsende in der nunmehr geteilten Stadt entwickelte, zeigt Jochen Hick in seinem neuen Film “Mein wunderbares West-Berlin“.

Anders als in seinem Gegenstück „Out in Ostberlin“, wo Jochen Hick noch die lesbisch-schwule Szene Ost-Berlins im Ganzen in den Blick nahm, konzentriert sich der Berliner Filmemacher hier ganz aufs schwule Leben. Man mag diese Entscheidung bedauern, aber nach diesen detailreich recherchierten und vor Geschichten und Geschichte schier überberstenden eineinhalb Kinostunden ist sie nur zu verständlich.

Kluge und dynamisch komponierte Zeitreise

Und auch so konnten viele Seitenaspekte aus fünf Jahrzehnten schwuler Bewegung und schwulem (Szene-)Alltag lediglich angerissen werden. Von den Repressionen, die Homosexuelle in den 1950er Jahren zu einem weitgehend versteckten Leben zwang, führt diese klug und dynamisch komponierte Zeitreise über die Aufbruchsstimmung Anfang der Siebziger mit ihrer studentisch geprägten Emanzipationsbewegung schließlich in die 1980er Jahre, in denen nicht nur viele der bis heute bedeutsamen queeren Institutionen gegründet wurden, sondern zugleich auch die Aidskrise die Community in ihren Grundfesten erschütterte und veränderte.

Mein wunderbares West-Berlin

Reichlich Stoff also, und doch ist „Mein wunderbares West-Berlin“ keine dröge Historiendoku. Dafür sorgt nicht zuletzt die bunte Mischung aus mehr oder weniger prominenten Zeitzeugen und Aktivisten. Hick hat für seinen Film Entertainerin Romy Haag und den Visagist René Koch interviewt und portraitiert. Mit dabei sind unter anderem der Berlinale-Kurator und Vater des Teddy Awards, Wieland Speck wie auch der Mitbegründer des schwulen Museums* Wolfgang Theis. Diese offenherzigen Interviewpartner erzählen skurrile Anekdoten und bewegende Episoden. Und sie vermögen auch gleichermaßen selbstironisch und selbstkritisch auf die Vergangenheit zurückzublicken. Zum Beispiel auf die von linker Theorie und Kapitalismuskritik bestimmten Schwulenbewegung in den siebziger Jahren. Wie sich die von Politphrasen dominierten Gruppendiskussionen damals anhörten, lässt sich anhand erstmals veröffentlichen Videomitschnitts nacherleben: eine fast Loriot-hafte Szene.

Unterhaltsames und lehrreiches Geschichtspanorama

Daneben stehen allerdings auch Erinnerungen wie die des Kostümschneiders Klaus Schumann, Jahrgang 1937. Dieser wurde nach seinem öffentlichen Coming-out von der Familie verstoßen und musste später miterleben, wie sein Lebensgefährte an Aids verstarb. „Mein wunderbares West-Berlin“ steckt voll von solch sehr persönlichen Erinnerungen. Es sind berührende, komische, erhellende und überraschende Momenten und Szenen, die sich zu einem unterhaltsamen und lehrreichen Geschichtspanorama zusammenfügen. Dank der klugen Montage verdichten sich so die gesellschaftlichen Entwicklungen und exemplarischen Lebensgeschichten, ohne sie zu verklären oder sie um des dramatischen Effektes willen zuzuspitzen.

Für die einen wird „Mein wunderbares West-Berlin“ eine unterhaltsame wie lehrreiche Geschichtsstunde sein; für andere, die die Zeiten vor Ort oder aus der Ferne miterlebt haben, wird der Film sicherlich Erinnerungen und die damit verbundenen Emotionen wecken. Und vielleicht auch überraschend feststellen, wie wenig bislang die schwule Alltags- und Bewegungsgeschichte in Deutschland filmisch festgehalten ist. Umso wichtiger sind Dokumentationen wie diese, in der die schwule/queere Geschichte bewahrt und – die wenigen – vorhandenen filmischen Dokumente aus jener Zeit ausfindig gemacht und nunmehr auch gesichert sind.


„Mein wunderbares West-Berlin“. Regie Jochen Hick. Mit Klaus Schumann, René Koch, Rosa von Praunheim, Romy Haag, Wolfgang Müller, Ades Zabel, DJ Westbam. Und mit Wilfried Laule, Salomé, Peter Hedenström, Gerhard Hoffmann, Dirk Ludigs, Wolfgang Theis, Detlef Mücke, Patsy L’Amour LaLove u.a. 90 Minuten. Kinostart: 29. Juni 2017.
www.wunderbares-west-berlin.de

Mein wunderbares West-Berlin

Trailer hier anschauen.

Von Axel Schock

Freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.