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Jenseits von Klischees: ‚Sauvage‘ jetzt im Kino

Camille Vidal-Naquets intensiver Spielfilm „Sauvage” ist ein kompromissloses und berührendes Porträt eines 22-Jährigen auf dem Straßburger Straßenstrich.

Félix Maritaud als Straßbourger Escort Léo.

Camille Vidal-Naquets intensiver Spielfilm „Sauvage” ist ein kompromissloses und berührendes Porträt eines 22-Jährigen auf dem Straßburger Straßenstrich.

Bis auf die Unterhose entkleidet liegt Léo auf der Liege und beschreibt seinen Husten. Der Arzt lässt sich die Symptome genauer beschreiben, aber sonderlicher Weise horcht er nicht etwa die Lunge ab, sondern greift in den Slip und packt sich Léos Schwanz. So überraschend diese Wendung, so schnell löst sie die Irritation auch gleich wieder auf. Léo hat zwar wirklich Husten, aber macht hier nur seinen Job; und der vermeintliche Arzt ist in Wahrheit ein Freier, dem ein befreundeter Mediziner den Behandlungsraum lediglich für sein Sex-Rollenspiel überlassen hat.

Leo bietet sich nicht aus einer Notlage heraus an.

Mit dieser fast komödienhaften Eingangsszene setzt der französische Regisseur Camille Vidal-Naquet einen Ton, der das erste Drittel seines ersten Spielfilms maßgeblich tragen wird. Der 22-jährige Léo lebt zwar mehr oder weniger auf der Straße. Doch auf dem Strich am Stadtrande von Straßburg scheint er sich jedoch nicht aus einer Notlage heraus anzubieten, sondern seinen Job als Sexarbeiter sehr ernst zu nehmen. Mehr noch: Er scheint nicht einfach nur den Freiern das zu geben, wofür sie bezahlen. Mit diesen Begegnungen erfüllt er offensichtlich auch eigene, lebensnotwendige Bedürfnisse: die nach körperlicher Nähe und selbstloser Zärtlichkeit. Das Geld spielt für ihn dabei nur eine zweitrangige Rolle.

Mit einem fast dokumentarischen Blick setzt Vidal-Naquet Alltagszenen und Momentaufnahmen nebeneinander. Er entwickelt so das Porträt eines offenbar sehr selbstbewussten, geradezu idealtypischen Sexarbeiters. Der für sich weder Grenzen noch feste Regeln kennt und solche auch nicht akzeptiert. Wie er fürsorglich und ohne sich dabei zu verstellen, einem greisen Freier nach dem Sex mit Zärtlichkeiten beglückt, ist eine der berührendsten Episoden dieses Films.

 

Und dann trübt sich das Bild ein…

Doch allmählich trübt sich dieses beinahe idealisierende Bild des Sexarbeiter-Lebens. Wieder sehen wir Léo in einer Praxis, nun aber diagnostiziert eine Ärztin nicht nur eine Lungenentzündung, sondern eine latente Tuberkulose und auch Proteinmangel – Folgen seiner ungesunden Ernährung und prekären Lebensweise. Einmal sehen wir ihn, wie er lässig in einem Mülleimer ein Stück weggeworfene Pizza herausfischt. Seinen Crack-Konsum lässt ihn nicht schlafen, aber warum, fragt er ganz ohne Zynismus, sollte er mit den Drogen aufhören?

Moralischer Zeigefinger? Fehlanzeige.

„Sauvage“ (dieser französische Begriff lässt sich mit „wild“, „urwüchsig“ aber auch mit „Einzelgänger“ übersetzen) zeigt diese Schattenseiten von Léos Leben ohne dramatische Zuspitzung oder moralische Wertung. Selbst als Léo an ein sadistisches Schwulenpaar gerät, das ihn mit einem Dildo vergewaltigt, ist Léo nicht vordergründig nur Opfer und alle Freier sind nicht pauschal Täter.

„Gezeichnet von den Spuren körperlicher Selbstausbeutung.“

Überhaupt vermeidet „Sauvage“ jegliches vereinfachende Schwarz-Weiß-Denken. Momente brutaler, schonungsloser Härte und solche der absoluten Verlorenheit stehen unmittelbar neben Szenen voller Innigkeit und Glück. Zusammengehalten werden diese bisweilen recht widersprüchlichen Facetten Léos durch den Schauspieler Félix Maritaud, der sie alle absolut glaubwürdig zu einer Figur vereint.

Darsteller Maritaud ist mittlerweile zum Filmidol der schwulen Community Frankreichs geworden.

Dieser Léo ist sexy. Er ist ausgestattet mit einer berührenden Menschenfreundlichkeit, gezeichnet von den Spuren der körperlichen Selbstausbeutung und getrieben von einer nicht zu stillenden Sehnsucht nach menschlicher Wärme. In Robin Campillos „120 BPM“ war Maritaud zwar nur in einer kleinen, aber eindrucksvollen Rolle. Er war als kompromissloser, wütender Aids-Aktivist zu erleben. „Sauvage“ ist nun der Film, mit dem der 25-Jährige nicht nur zu einem Filmidol der schwulen Community Frankreichs geworden ist. Denn es ist bereits seine vierte schwule Hauptrolle in Folge; er ist nunmehr auch in die erste Riege der französischen Jungschauspieler aufgestiegen. Bei den Filmfestspielen in Cannes wurde er für seine Rolle des Léo mit dem Louis Roederer Foundation Rising Star Award belohnt.

Stricher-Geschichten gibt es viele – diese sticht hervor!

Strichergeschichten wurden schon viele für die Leinwand erzählt: man denke da nur an André Techinés „Ich küsse nicht“ (1991), Peter Kerns „Gossenkind“ (1991), Robin Campillos „Eastern Boys“ (2013) oder Gus van Sants „My Own Private Idaho“ (1992) bzw. „Mala Noche“ (1985). In vielen dieser Filme stehen mal die Obsessionen der Freier oder die sexuelle Ausbeutung der Jungs und Männer im Zentrum. „Sauvage“ vermeidet solche Eindeutigkeiten, aber verklärt auch nichts. Nicht den Zusammenhalt unter den Männern, die auf dem Straßenstrich durchaus in Konkurrenz zueinander auf ihre Kundschaft warten, sich aber im Falle eines sadistischen Promi-Musikers, gegenseitig vor diesem gefährlichen Kunden warnen. Ein Preisdrücker hingegen wird mit roher Gewalt in die Schranken gewiesen. Genauso wenig verklärt wird die prekäre Existenz auf der Straße: ohne jegliche Sicherheiten und immer in der Gefahr, verletzt, erniedrigend oder betrogen zu werden.

Léo erscheint unschuldig, unnahbar.

Léo bleibt ein Mysterium.

„Meinst du ich werde ein Leben lang Schwänze lutschen?“

Léo aber scheint von alledem sehr unberührt und er bleibt bis zur letzten, ungemein intensiven Szene ein Mysterium – unschuldig und unnahbar. Niemand erfährt, was eigentlich seine Geschichte ist. Deutlich wird nur, wie ruhelos er ist, getrieben von der Suche nach Geborgenheit, gepaart mit dem existenziellen Bedürfnis absoluter Freiheit. Ausdauernd schleicht er Ahd (Eric Bernard), einem muskulösen, bärtigen Kerl und eigentlich sympathischen Kollegen hinterher, obwohl er weiß, dass der seine Liebe nicht erwidert und ihn immer brüsker abweist. Dass Léo sich von Freiern küssen lässt, ist Ahd unverständlich: „Ich habe das Gefühl, du spielst gerne die Hure.“ Ahd hat für sich ein Ziel:  sich einen reichen Sugar Daddy zu angeln und so weg von der Straße zu kommen. „Meinst du ich werde ein Leben lang Schwänze lutschen? Ich bin nicht einmal schwul.“

Und dann bekommt Leo eine Chance.

Als Léo tatsächlich diese Chance bekommt – einen liebevollen Mann, der ihm nicht nur ein Zuhause, sondern auch eine gemeinsame Zukunft bietet – entflieht er dieser Bindung in allerletzter Sekunde. Die absolute Freiheit ist ihm wichtiger, selbst wenn sie zwangsläufig wieder Einsamkeit und ein rastloses Leben auf der Straße bedeutet.

„Sauvage“. Buch und Regie: Camille Vidal-Naquet. Mit  Félix Maritaud, Eric Bernard, Nicolas Dibla, Philippe Ohrel. Frankreich 2018, 99 Minuten, französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln.

Kinostart: 29. November 2018

Trailer und Infos zum Film gibt’s hier!

Von Axel Schock

Freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.