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Hedy: Räume, wo wir wissen: Da gehören wir hin!

Hedy kann keine Kacheln mehr sehen! Sie war das letzte halbe Jahr in zu vielen Zoom-Konferenzen, zu oft konnte sie ihre Gesprächspartner_innen nur als winzige Videos sehen. Sie findet: Selbst die beste Technik kann persönliche Begegnungen nicht ersetzen.

Blickkontakt statt Video-Kacheln

Hedy kann keine Kacheln mehr sehen! Sie war das letzte halbe Jahr in zu vielen Zoom-Konferenzen, zu oft konnte sie ihre Gesprächspartner_innen nur als winzige Videos sehen. Die Berlinerin coacht Führungskräfte und trainiert Belegschaften, vor allem in Sachen Gesundheit. Während des Lockdowns konnte sie ihre Fortbildungen nur online geben. „Technisch hat das gut geklappt“, erzählt die 61-Jährige. Aber selbst die beste Technik kann persönliche Begegnungen nicht ersetzen, davon ist Hedy überzeugt: „Wir sind soziale Wesen und darauf angewiesen, einander leibhaftig zu begegnen! Das hatte sich zum Glück während des Sommers wieder gebessert – aber in die Zeit vor Corona können wir so schnell nicht zurück. Nach Corona ist vor Corona!“

Hedy ist Coach, Therapeutin, und Fachfrau für Kommunikation.

Für viele Menschen aus der queeren Community sind die letzten Monate wohl besonders schwierig gewesen, vermutet Hedy. „Viele von uns leben allein. Da fällt es schwerer, die Kontakte aufrechtzuerhalten.“ Wenn dann auch noch Umarmungen tabu sind, geht‘s ans Eingemachte. „Gerade Singles müssen schauen, wie sie gut durch diese Zeit kommen.“

Das Szenepublikum fächert sich auf

Erschwerend kam hinzu: Viele Treffpunkte der queeren Community waren geschlossen, Veranstaltungen wurden abgesagt. Das trifft Lesben noch härter als Schwule, erläutert Hedy. „Wir Frauen verdienen rund 20 Prozent weniger als Männer und geben entsprechend weniger aus. Frauenläden haben es schon deshalb schwerer.“

Selbst im großen Berlin gibt es mit der Begine nur noch eine Kleinkunstbar, in die – klassisch feministisch – nur Frauen* dürfen. Immerhin: Die schlimmste Corona-Zeit konnte das Begine-Team mit Spenden überbrücken. Die meisten Frauenkneipen hatten aber schon vor der Pandemie aufgegeben. Oder sie haben ihr Konzept geändert.

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Für Hedy (oben, links) können persönliche Begegnungen auch durch die beste Technik nicht ersetzt werden.

„Die Räume für uns Lesben sind weniger geworden – und offener“, erklärt Hedy. Die Türpolitik „Nur für Frauen“ funktioniert nicht mehr wie früher. Das Publikum fächert sich auf. Trans* Männer und trans* Frauen wollen genauso rein wie Besucher_innen, die sich weder als Mann noch als Frau einordnen.

„Wir Menschen brauchen Schutzräume“

Auf Hedys Geburtstagsfeier haben zwei ihrer Freundinnen intensiv darüber diskutiert. Die eine organisiert ein Berliner Filmfestival mit. Auf den Flyern steht inzwischen „Lesbian Non-Binary Filmfest“. Die andere stolperte über das Wort „non-binary“ und stellte fest: „Ich bin nur lesbisch. Bitte erklär mir das!“ Hedy war fasziniert: „Zwischen den beiden lagen nur 16 Jahre, aber trotzdem haben sich ihre Sichtweisen sehr unterschieden.“ Verstehen konnte die Gastgeberin beide Seiten. „Bei vielen neuen Begriffen blicke ich auch nicht mehr durch, weil sie einfach komplex sind“, sagt Hedy und lacht. „Manchmal würde ich mir wünschen, dass ich einen Diskurs nicht erst erforschen muss, um mitreden zu können.“

Hedy sieht die Veränderung ihrer vertrauten Community mit Freude und Wehmut zugleich. „Die jüngere Generation nimmt die neuen Möglichkeiten ganz selbstverständlich in Anspruch. Meine Generation bedauert eher, dass sich unsere Räume so stark verändern.“ Für diese Freiräume setzt sich Hedy seit Langem ein, derzeit im Vorstand des Lesbenrings. Der Verein vernetzt Lesben*gruppen bundesweit. Die muss und wird es auch in Zukunft geben, betont Hedy. „Wir Menschen brauchen Schutzräume, wo wir wissen: Da gehöre ich hin!“ Das könne die Partnerschaft sein, die Wahlfamilie – oder eben Community-Orte wie Begine oder „Rad und Tat“. Dort fühlten sich viele sicher und „beheimatet“.

Räume
Hedy sieht die Veränderung ihrer vertrauten Community mit Freude und Wehmut zugleich.

Harte Fronten durch die Community

Ausgerechnet diese Rückzugsorte geraden nun in Bewegung. „Das irritiert viele“, sagt Hedy. „Es stellen sich viele Fragen: Was wird mir dadurch genommen? Und was kann ich gewinnen?“ Durch ihren Beruf als Coach und Therapeutin weiß sie, wie leicht Menschen in solchen Übergangsphasen aneinandergeraten, besonders Jüngere und Ältere.

Umso wichtiger findet Hedy die Botschaft von #wirfürqueer: „Wir halten zusammen.“ Doch Zusammenhalt kostet Kraft. Als Fachfrau für Kommunikation wünscht sich Hedy „eine Kommunikationskultur, in der wir einander zuhören und unterschiedliche Positionen kennenlernen – und zwar ohne gleich auf 180 zu sein, wenn ich eine andere Sicht auf die Dinge höre.“ Derzeit hat Hedy den Eindruck, dass harte Fronten durch die Community verlaufen. „Das treibt mich um! Die Frage ist: Wie schaffen wir es, einander besser zuzuhören?“

Es führt kein Weg daran vorbei: Wenn wir gemeinsam durch die harten Zeiten kommen wollen, müssen wir miteinander reden können. Da ist sich Hedy sicher – und bereit zum konstruktiven Streit. „Wenn andere mit mir darüber öffentlich diskutieren möchten, mach ich das gern! Ich habe große Lust, meinen Teil beizutragen, dass unsere Community zusammenhält!“


Auch die queere Szene ist von der Coronavirus-Pandemie betroffen, sei es durch mögliche Einsamkeit oder durch finanzielle Schwierigkeiten. Ihr wollt helfen oder sucht Hilfe? #WirFürQueer listet Projekte auf, die Hilfe anbieten oder selbst Unterstützung suchen. Klickt Euch durch und findet eine passende Hilfs- oder Soliaktion!

Von Philip Eicker

Arbeitet freiberuflich als Autor und Magazinredakteur, unter anderem für die Deutsche Aidshilfe, das Erzbistum Berlin und das queere Stadtmagazin Siegessaeule.