Während weltweit Gelder gekürzt werden und rechte Regierungen Minderheiten angreifen, organisieren sich queere Migrant*innen neu – jenseits großer Institutionen, aus purer Notwendigkeit und kollektiver Kraft. Zum Welt-Aids-Tag 2025 zeigt Wíner Ramírez Díaz vom Pariser Kollektiv Maricolandia, wie Graswurzel-Communities Tag für Tag gegen HIV/Aids, Diskriminierung und neoliberale Ausgrenzung kämpfen – und warum ihr Widerstand entscheidend ist für jede Zukunft ohne HIV/Aids.
Der vorliegende Artikel beleuchtet zentrale Aspekte im Kampf gegen HIV/Aids – gestützt auf Erfahrungen aus der Praxis mit jenen Bevölkerungsgruppen, die epidemiologisch wie psychosozial am stärksten betroffen sind: den sogenannten Schlüsselpopulationen. Gerade zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember ist es mir wichtig, aktivistische Perspektiven sichtbar zu machen. Dabei geht es mir weniger darum, Lösungen für funktionale oder strukturelle Probleme zu präsentieren, sondern vielmehr darum, die konkreten Realitäten vor Ort zu zeigen und Alarm zu schlagen angesichts der tiefsitzenden Dysfunktionen, die diesen Kampf entlang der gesamten Versorgungskaskade prägen.[1]
In welchem Kontext steht dieser Kampf?
Laut dem UNAIDS-Informationsblatt 2025 lebten im Jahr 2024 weltweit rund 40,8 Millionen Menschen mit HIV, und etwa 1,3 Millionen Menschen infizierten sich neu. Etwa 630.000 Menschen starben 2024 an Aids-bedingten Erkrankungen, und rund 31,6 Millionen Menschen erhielten Zugang zu einer antiretroviralen Therapie.
Diese Zahlen machen deutlich, wie groß die Herausforderung bleibt, eine Welt ohne HIV/Aids zu erreichen. In Europa etwa hat laut dem WHO-Regionaldirektor für Europa, Dr. Hans Henri P. Kluge, noch immer die Hälfte der Menschen mit HIV in Osteuropa und Zentralasien keinen Zugang zu einer antiretroviralen Behandlung. Seit 2010 ist diese Zahl um 49 % gestiegen – in einer Region, die weltweit zu denjenigen mit den höchsten Zuwächsen an HIV-Neuinfektionen gehört.[2]
Die Widersprüche im Kampf
In den 1980er Jahren veränderte das Auftreten von Aids die Dynamik der Bewegungen sexueller Minderheiten grundlegend. Homosexuelle und bisexuelle Männer wurden innerhalb der LSBTQIA+-Community am härtesten getroffen. Dieser tragische Einschnitt war zugleich ein Moment des Zusammenkommens: Menschen mit nicht-normativer Sexualität organisierten sich, um der Krise etwas entgegenzusetzen. So entstanden Organisationen wie ACT UP (international bekannt), AIDES in Frankreich, die Deutsche Aidshilfe (DAH) und weitere – ebenso wie innergemeinschaftliche Bewegungen, etwa die „Schwestern der Perpetuellen Indulgenz“, deren Engagement bis heute anhält.
2008 markierte die HIV-Prävention dann eine echte Revolution: die „Schweizer Deklaration“ von Professor Hirschel und Kolleg*innen, die festhielt, dass Menschen mit HIV bei erfolgreicher Therapie und ViruslastViruslast bezeichnet die Menge an Viren, die im Blut einer Person nachweisbar sind. • Bei HIV zeigt die Viruslast an, wie viele HI-Viren pro Millili... Mehr unter der Nachweisgrenze HIV nicht mehr beim Sex übertragen; sowie das Aufkommen der PrEP. Beide Entwicklungen leiteten einen grundlegenden Paradigmenwechsel im Werkzeugkasten der HIV/Aids-Prävention ein. Laut dem Soziologen Cyriac Bouchet-Mayer bilden die 2010er Jahre allerdings zugleich einen Wendepunkt: Die klassische Kondomförderung rückte in den Hintergrund, während Tests und der Zugang zu präventiven Multitherapien für „Schlüsselpopulationen“ an Bedeutung gewannen. Doch abgesehen von einer privilegierten Gruppe von Männern, die Sex mit Männern haben (MSMMSM ist die Abkürzung für „Men who have Sex with Men“ – also Männer, die Sex mit Männern haben. • Der Begriff beschreibt Verhalten, nicht ... Mehr), sind andere Schlüsselgruppen – etwa intravenös Drogen konsumierende Menschen, Sexarbeiter*innen oder Migrant*innen – in den Testzentren kaum präsent.
Dieser Ausschluss beschränkt sich jedoch nicht auf Krankenhäuser: Er zieht sich durch die meisten institutionellen Einrichtungen, die eigentlich genau diese Bevölkerungsgruppen erreichen sollten. Zwar wurden Kampagnen zur Bekämpfung von HIV/Aids in den letzten Jahren repräsentativer – etwa für rassifizierte Menschen, transTrans (kurz für transgeschlechtlich oder transident) beschreibt Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ih... Mehr Personen, dicke_fette Menschen oder Migrant*innen. Doch die Lebenserfahrungen extrem kleiner Minderheiten bleiben weiterhin marginalisiert. Sie stehen an einem Kreuzungspunkt vielfältiger struktureller Unterdrückungen, die ihr Leben prägen und erschweren. Genau jene Gruppen, die in der öffentlichen Gesundheit als „Schlüsselgruppen“ gelten – und somit im Zentrum von Präventions- und Risikominderungsmaßnahmen stehen müssten – sind gleichzeitig diejenigen, die am stärksten von Ausgrenzung betroffen sind.
Die Schwierigkeiten extrem minoritärer Bevölkerungsgruppen
Im Bericht zum Welt-Aids-Tag 2025 mit dem Titel „Surmonter les perturbations, transformer la riposte au sida“ (auf Deutsch etwa: „Störungen überwinden, die Antwort auf Aids verändern“) stellt UNAIDS einen drastischen Rückgang der internationalen Hilfe fest. Verantwortlich dafür ist die Politik der Regierungen der nördlichen Hemisphäre, die sich zunehmend aus dem globalen Kampf gegen HIV/Aids zurückziehen.
Für große NGOs ist dieser Rückgang existenziell bedrohlich. Schrumpfende Finanzmittel gefährden die Prävention. Sie gefährden auch den Zugang zu Behandlungen. Damit rückt das Ziel in die Ferne, HIV bis 2030 zu besiegen.
Gleichzeitig entsteht trotz Mittelkürzungen etwas Neues. Trotz der von rechtsextremen Regierungen angeheizten Hasswellen gegen LSBTQIA+, transTrans (kurz für transgeschlechtlich oder transident) beschreibt Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ih... Mehr Menschen und Migrant*innen wachsen rebellische gemeinschaftliche Projekte. Sie entstehen außerhalb klassischer Vereinsstrukturen. Sie reagieren widerständig auf den Rechtsruck im globalen Norden. In Europa erschweren migrationsfeindliche Maßnahmen zusätzlich die gesellschaftliche Teilhabe dieser Gruppen.
Verschiedene Bewegungen von LSBTQIA+-Migrant*innen arbeiten eng mit Netzwerken, Vereinen und Krankenhäusern zusammen – einzeln und kollektiv. Sie schützen ihre eigene Gesundheit und fördern Präventionsinstrumente wie PrEP, TasP oder PEP. Die Studie „Parcours en France“ (2015) aus der öffentlichen Gesundheitsforschung zeigt: Viele Migrant*innen infizieren sich erst nach ihrer Ankunft in Frankreich mit HIV. LSBTQIA+-Migrant*innen und migrantische Sexarbeiter*innen stehen vor zahlreichen Hürden. Administrative, sprachliche und materielle Barrieren beeinträchtigen ihre Gesundheit. Gleichzeitig erhöhen sie das Risiko, Gewalt zu erfahren.
Gefährliche Gesetze: Wie Frankreich queere Migrant*innen mit HIV im Stich lässt
In Frankreich können Menschen mit HIV/Aids grundsätzlich eine Aufenthaltsgenehmigung aus medizinischen Gründen beantragen. Hintergrund ist, dass in vielen Herkunftsländern der Zugang zu Medikamenten fehlt. Immer häufiger lehnen die Behörden diese Anträge jedoch ab. Stattdessen erhalten Betroffene OQTF-Bescheide (Obligation de Quitter le Territoire Français). Sie sollen also das französische Staatsgebiet verlassen. Das bringt ihr Leben in akute Gefahr.
Besonders während der COVID-Pandemie zeigte sich diese Realität deutlich. Migrant*innen hatten enorme Schwierigkeiten, an Präventionsmittel wie Therapie oder PrEP zu kommen – unabhängig davon, ob sie mit HIV leben oder in der Sexarbeit tätig sind. Viele konnten sich im Alltag kaum bewegen, ohne ein hohes Risiko einzugehen, in Polizeikontrollen zu geraten.
Hinzu kommt das französische Gesetz von 2016, das die Bestrafung von Freier*innen in der Sexarbeit vorsieht. Es stellt für Sexarbeiter*innen, ob mit oder ohne Migrationsgeschichte, eine akute Gefahr dar. Das sogenannte Nordische Modell führt nachweislich zu mehr sexuellen Risikokontakten ohne Kondom. Es geht mit einem Anstieg sexualisierter und sexistischer Gewalt einher. Die Kriminalisierung drängt viele Sexarbeiter*innen in den Untergrund. Seit 2018 kamen mindestens drei südamerikanische transTrans (kurz für transgeschlechtlich oder transident) beschreibt Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ih... Mehr Frauen in der Sexarbeit ums Leben. Seit Jahren prangern zahlreiche Organisationen diese Gesetzeslage an – denn sie verschärft das Leben von transTrans (kurz für transgeschlechtlich oder transident) beschreibt Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ih... Mehr und LGBTQIA+-Migrant*innen massiv.
Zurück zum Wesentlichen – Kampf und gemeinschaftlicher Widerstand: eine kollektive Erfahrung
2018 schloss sich eine Gruppe queerer Migrant*innen aus Lateinamerika zusammen. Daraus entstand eine Gemeinschaft in einer europäischen Großstadt. Sie kämpft gemeinsam gegen HIV/Aids und gegen die Diskriminierungen, die das Leben queerer, migrantischer und sexarbeitender Personen prägen.
Wir haben mit Maricolandia ein Kollektiv geschaffen. Es bietet queeren und transTrans (kurz für transgeschlechtlich oder transident) beschreibt Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ih... Mehr Personen aus dem Globalen Süden einen Raum, die in den Globalen Norden migriert sind. Der Raum steht allen Migrant*innen offen, die sich als «Maricas» – also als queerQueer ist ein Sammelbegriff für Menschen, deren sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität nicht der gesellschaftlichen Norm von „heterosexue... Mehr, schwulSchwul bezeichnet Männer, die sich romantisch und/oder sexuell zu Männern hingezogen fühlen. Wichtiges zum Begriff: • „Schwul“ ist die gebrä... Mehr, transTrans (kurz für transgeschlechtlich oder transident) beschreibt Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ih... Mehr usw. – identifizieren und in Frankreich oder anderen Teilen Europas leben. Unser Kollektiv beruht auf gegenseitiger Unterstützung, Teilen, Liebe und queerer Lebensfreude. Als Kollektiv positionieren wir uns gegen Transfeindlichkeit, Homofeindlichkeit, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Serophobie (Diskriminierung aufgrund des HIV-Status), Homonationalismus, Gaypitalismus, Prekarität und Neoliberalismus. Gleichzeitig prangern wir die vom Staat und vom Markt vereinnahmten sozio-institutionellen Logiken an.
In unserem Raum sind auch Geschwister willkommen, die ebenfalls aus dem Süden zugewandert sind. Viele von uns waren und sind von vielfältigen Formen der Unterdrückung betroffen. Dazu gehören Migrationsstatus, Sexualität, HIV-Status und weitere Faktoren. Trotz begrenzter Ressourcen und wenig Raum für autonome Organisation haben wir ein Netzwerk der Geschwisterlichkeit aufgebaut. Es begleitet vor allem Menschen ohne Papiere, Asylbewerber*innen und migrantische Sexarbeiter*innen. Wir sind auch mit der Realität von Chemsex konfrontiert. Deshalb arbeiten wir eng mit öffentlichen Gesundheitsdiensten zusammen. So erhalten marginalisierte Menschen Zugang zu Angeboten der Risikominderung und werden innerhalb unserer Gemeinschaft gut begleitet.
Selbstorganisation in Aktion: Prävention, politische Arbeit und Lebensfreude
Unsere Arbeitsschwerpunkte liegen in den prekären Lebensbedingungen von Migrant*innen, in Gesundheit und Prävention sowie in all den administrativen und alltäglichen Schritten, die damit verbunden sind. Diese horizontale Begleitung findet in unseren Workshops statt, in den Französischkursen für den Alltag und in unseren verschiedenen sozialen Beratungsangeboten. Gleichzeitig beteiligen wir uns an politischen Veranstaltungen – und organisieren selbst welche.
Abends schaffen wir uns Momente, in denen wir tanzen, laut und wild sein können – und uns gleichzeitig gegenseitig stärken für die Aktivitäten, die vor uns liegen.
Jedes Wochenende geben wir einen Französischkurs, von uns für uns. Dieser Kurs hilft uns, die Isolation unserer Geschwister zu durchbrechen und die Sprache zu lernen. Gleichzeitig vermitteln wir in den Workshops wichtige Botschaften zu Risikominderung und Prävention im Bereich sexueller und gemeinschaftlicher Gesundheit. Wir teilen unser kollektives Wissen, um vielfältigen Unterdrückungen, administrativen Hürden, Schwierigkeiten bei Wohnungssuche, Studium oder Asylverfahren, Problemen in der sexuellen Gesundheit oder beim Umgang mit Chemsex zu begegnen.
Wir organisieren Tage und Feste, mit denen wir materielle Ressourcen für unsere Arbeit sammeln. Und dabei vergessen wir nie: Dieser Kampf wird von uns und für uns geführt – weil wir keine andere Wahl haben.
Den Kampf gegen HIV/AIDS gemeinsam gestalten
Unser gemeinsamer Raum erlaubt es uns, darüber nachzudenken, wie der Kampf gegen HIV/Aids in den kommenden Jahren aussehen muss – und wie wir ihn im Alltag schon jetzt führen. Dieser Kampf ist übergreifend: Er lässt sich nicht auf epidemiologische oder gesundheitspolitische Fragen reduzieren. Der Kampf von LGBTQIA+-Migrant*innen ist untrennbar mit den Kämpfen aller sexuellen Minderheiten verbunden und muss antirassistisch, antifremdenfeindlich, feministisch, behindertenfreundlich und selbstverständlich HIV-inklusiv sein.
Unsere kollektive Erfahrung stärkt unseren Widerstand. So wehren wir uns gegen die ultraneoliberale Funktionslogik, die viele große Organisationen im Kampf gegen HIV/Aids prägt. Diese Strukturen funktionieren zunehmend als Dienstleister*innen eines kapitalistischen, neoliberalen Systems. Sie erzwingen Konkurrenz und nutzen die Arbeit sexueller Minderheiten als Ressource, um diese Logiken zu erhalten. Wir positionieren uns klar anti-homonationalistisch. Unsere Identitäten sind nicht verhandelbar. Sie dürfen niemals genutzt werden, um Hass oder Gewalt gegen unsere Geschwister zu legitimieren.
365 Tage Welt-Aids-Tag, 365 Tage Widerstand: Gegen Gaypitalismus, Hass und Gleichgültigkeit
Wir leben in einer Zeit, in der viele Rechte, die lange als selbstverständlich galten, wieder infrage gestellt werden. Ultrakonservative Kräfte greifen sie offen an. Unsere kollektiven Projekte müssen deshalb ein Gegenmodell sein: Sie sollen inspirieren, der Gleichgültigkeit widersprechen und der Kommerzialisierung unserer Identitäten („Gaypitalismus“) etwas entgegensetzen. Zugleich stellen sie sich gegen eine Tendenz in unseren eigenen Communities, politische Kämpfe zugunsten individualisierter Vergnügungslogiken zu verdrängen. Diese Logik blendet Menschen aus, die so sind wie wir und unter vielfältigen Formen der Unterdrückung leiden.
Zum Schluss lade ich alle ein, sich bewusst zu machen: Unser Kampf findet nicht nur am Welt-Aids-Tag am 1. Dezember statt. Wir sind 365 Tage im Jahr aktiv. Wir kämpfen dafür, HIV/Aids-Übertragungen in ultraminoritären Gruppen wie LGBTQIA+-Migrantinnen und migrantischen Sexarbeiterinnen zu verringern. Und wir kämpfen für würdigere Lebensbedingungen insgesamt.
Die Erfahrungen HIV-positiver Menschen müssen über die gängigen Präventionsparolen hinaus gehört werden, die ihre Realität auf „nicht nachweisbar = nicht übertragbar“ verkürzen. Wir dürfen nicht vergessen, dass HIV/Aids vor allem jene trifft, die am stärksten gefährdet sind und mehreren Ebenen von Unterdrückung ausgesetzt sind.
Lasst uns mobilisieren, handeln – und gemeinsam am Kampf zum Welt-Aids-Tag teilnehmen!
[1] Die HIV-Kaskaden Ziele 95-95-95 der UNAIDS sind ein globales Ziel zur Ausrottung der HIV/Aids-Epidemie durch einen verbesserten Zugang zu medizinischer Versorgung. Sie gliedern sich in drei Hauptziele, die jeweils bis 2030 zu 95 % erreicht werden sollen: 95 % der Menschen, die mit HIV leben, wissen das. Davon erhalten 95% lebensrettende Medikamente. Und davon wiederum wirken bei 95% die Medikamente so gut, dass HIV sexuell nicht übertragbar ist.
[2] https://www.who.int/europe/fr/news/item/22-07-2024-statement—ending-aids-by-2030–we-can-keep-the-promise