Warum haben wir denn eigentlich Sex?

Drei Männer in intimem Gespräch über Pornokonsum und dessen Auswirkungen

Inhalt

Autor: Hannes Ulrich

Unser Autor ist Paar- und Sexualtherapeut und hat für uns über Sexualität und all die Konventionen, Mythen und anderen Konstrukte, die damit zusammenhängen. Sein polemischer Text beruht auf psychologischen und sexualwissenschaftlichen Theorien, als auch auf klinischen Erfahrungen und soll Leser:innen dazu anregen, über ihre Sexualität nachzudenken.

Geht es beim Sex nur um Fortpflanzung?

Fragt man Menschen, warum sie Sex haben, heißt es oft: „zur Fortpflanzung“. Im Biounterricht klingt das dann so: Penis in Vagina, Sperma trifft Eizelle, neun Monate später ein Kind. Aber ist das wirklich alles, was Sexualität bedeutet?

Sex ist mehr als Fortpflanzung

Ja, Sex dient der Fortpflanzung – aber wenn es nur darum ginge, müssten wir höchstens ein paar Mal im Leben Sex haben. Und was ist mit homosexuellen Paaren? Kinder entstehen dort auf natürlichem Weg nicht. Dank Verhütung lässt sich Fortpflanzung heute gut von Sexualität trennen. Also: Es muss noch andere Gründe geben, warum Menschen Sex haben.

Sex ist mehr als Fortpflanzung

Viele sagen, sie haben Sex, weil sie Lust verspüren oder Druck ablassen wollen – ein völlig legitimer Grund. Aber wenn es nur darum ginge, bräuchten wir keine anderen Menschen. Fantasien oder Pornos würden zum Masturbieren ausreichen. Sexualität muss also noch mehr bedeuten.

Warum wir Sex mit anderen Menschen wollen

Auf die Frage, warum wir Sex mit anderen Menschen haben, fällt vielen die Antwort schwer. Die sexualwissenschaftliche Erklärung lautet: Sexualität erfüllt grundlegende psychosoziale Bedürfnisse. Wir Menschen sind soziale Wesen, die Nähe, Anerkennung, Geborgenheit und Bindung suchen.

Sexualität ist dabei eine besondere Form der Kommunikation. Sie kann uns Bestätigung geben, Sicherheit schenken oder das Gefühl, gesehen und gehalten zu werden. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir: Sex bedeutet weit mehr als nur Fortpflanzung oder Lustbefriedigung.

Sex als Ausdruck von Nähe und Vertrauen

Was bedeutet es, sich vor jemandem nackt zu zeigen? Körperflüssigkeiten auszutauschen? Sich gegenseitig zu öffnen? All das setzt Vertrauen voraus und schafft Nähe.

Sex kann ausdrücken: „Ich sehe dich, ich nehme dich an, ich vertraue dir.“ Natürlich können wir das auch sagen – aber oft wirkt körperliche Nähe tiefer als Worte. Für uns soziale Wesen ist genau das essenziell.

In modernen Sexualtherapien und -beratungen rückt die Reflexion der Bedeutung in den Vordergrund und damit die sogenannten Störungen und Probleme in den Hintergrund. Bei einer Erektionsstörung kann man durchaus auch mal die Frage stellen, warum eine Erektion überhaupt so wichtig ist für eine erfüllende Sexualität. „Ist so“, „brauche ich, sonst kann ich meine:n Partner:in nicht befriedigen“. Diese Fehlannahmen werden oft als Naturgesetz anerkannt und akzeptiert. Können denn zwei lesbische Frauen eine erfüllende Sexualität haben? Ja, aha – wie geht das denn ohne erigierten Penis? Die vermeintliche Wichtigkeit der Penisgröße und dessen Erektion wird durch pornografische Medien unterstrichen. Prototypisch sehen wir wie ein durchtrainierter Mann stundenlang in allen möglichen Stellungen seine:n Partner:in in alle zur Verfügung stehende Körperöffnungen penetriert. Seine Handlungen werden vom gegenüber lautstark durch Stöhnen validiert, bis er dann lautstark und gut für die Kamera sichtbar ins Gesicht spritzt. Romantik? Zärtlichkeit? Zuneigung? Fehlanzeige!

Das Internet ist voll mit diesen Darstellungen. Aus sexualwissenschaftlicher Perspektive ist die Überflutung mit Pornografie jedoch nicht ein Zuviel an Sexualität, sondern eher ein Zuwenig[1] . Stets wird nur die Lustdimension abgebildet. Eine Reduzierung darauf bildet allerdings nicht die Wahrheit ab – was wir dort sehen, ist Fiktion und hat mit realer Sexualität nur wenig zu tun.

Wenn er oder sie einen Orgasmus hat, dann kann ich nicht so viel falsch gemacht haben

Was guter Sex ist, wird am Orgasmus der/s Partner:in festgemacht: „Wenn er oder sie einen Orgasmus hat, dann kann ich nicht so viel falsch gemacht haben.“ Aus Orgasmus wird also „OrgasMuss“, um mich selbst in meiner Rolle als Sexualpartner:in zu bestätigen – als „geiler Hengst“ oder als „femme fatale“. Getrieben von dem Gedanken der krampfhaften „OrgasMuss-Produktion“ wird häufig gar nicht wahrgenommen, was denn gerade Schönes und Wundervolles auf dem Weg dorthin passiert. Schade. Vielleicht sollten wir „OrgasMuss“ zugunsten von „OrgasKann“ oder „OrgasDarf“ ersetzen – das könnte der einen oder dem anderen den Druck nehmen.

„Es war doch NUR Sex – Schatz!“ Diesen Satz haben sicherlich schon viele gehört. Wenn nicht im privaten Umfeld, dann vielleicht in einem Film aus Hollywood. Nachdem festgestellt wurde, dass: „es ist nicht das, wonach es aussieht“, nicht so richtig zieht, wenn man in flagranti erwischt wird, muss die Bedeutung des sexuellen Akts an Gewichtung verlieren. Wenn wir aber anfangen die Bedeutung zu reflektieren, werden wir bald feststellen, dass das „NUR“ völlig fehl am Platze ist. Warum setzt man denn ihre/seine, in der subjektiven Bedeutung als sehr wichtig eingestufte, Beziehung aufs Spiel? NUR für Sex!? Es ist auch kein Zufall, dass gerade Menschen mit einer narzisstisch akzentuierten Persönlichkeit es nicht schaffen treu zu bleiben. Narzissten*Innen brauchen ein Übermaß an Anerkennung, Wertschätzung und Bestätigung. Sex scheint eine gute Möglichkeit zu sein, genau dies zu bekommen – zumindest kurzfristig und oberflächlich. Im Gegensatz dazu gibt es Menschen, die eher ängstlich und vermeidend sind. Bei diesen wird es beim Sex vermutlich weniger um Anerkennung gehen, vielmehr um Sicherheit und Geborgenheit.

Nun wird schnell klar, dass wir für die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse als Person gemeint sein müssen und nicht nur als irgendwelche Objekte, die gerade verfügbar sind. In diese missliche Lage geraten wir heutzutage nicht nur in Swingerclubs oder auf Sexpartys, sondern auch bei random oder casual Sexdates, die über Online-Plattformen ausgemacht werden, bei denen das Motto lautet: „Rein, rauf, runter, raus“. Das ist überhaupt gar nicht schlimm oder verwerflich, solange den Akteur:innen dies auch bewusst ist. Häufig entstehen Sexsüchte jedoch genau aus diesem Grund. Diese Menschen suchen, meist unbewusst, nach Anerkennung, Nähe, Sicherheit, Geborgenheit oder Bestätigung. Nach dem Hochgefühl des Orgasmus folgt in diesen Konstellationen dann aber häufig wieder das Gefühl der Leere – was zur Folge hat, dass sich erneut auf die Suche begeben wird. Um den Kick zu steigern, wird die Anzahl der Sexualpartner:innen erhöht, extremere Praktiken ausprobiert und/oder Drogen konsumiert. Im Grunde sind die Betroffenen nicht dauergeil, sondern eher dauereinsam, im Sinne eines Mangels oder Verlusts der aufgeführten psychosozialen Grundbedürfnisse. Psycholog:innen nennen diesen Zustand Deprivation. Der Versuch dieser Leere mit random Sex zu begegnen, ist vor diesem Hintergrund oft das falsche Pflaster für die Wunde.

Weg von Erektion und Orgasmus, hin zu „ich fühle mich wohl mit dir“, „ich finde dich toll“ und/oder „danke, dass wir diese Intimität teilen“. Weg von Bumsen, Ficken und Blasen, hin zur Erfüllung psychosozialer Grundbedürfnisse. Weg von „ich muss funktionieren“, hin zu „ich gebe und nehme sehr achtsam und bewusst.“ In der Praxis sind die Dimensionen der Sexualität natürlich nicht voneinander zu trennen. Um die gelebte und empfundene Sexualität zu verbessern, Funktionsstörungen vorzubeugen und sowohl sich als auch andere nicht in gefährliche Situationen zu bringen, ergibt die Reflexion der verschiedenen Ebenen allerdings durchaus Sinn. Warum mach ich das hier eigentlich? Warum habe ich Sex mit dieser Person? Was passiert hier eigentlich und möchte ich das überhaupt? Lecke oder blase ich gerne, weil ich das mag oder weil ich glaube zu wissen, dass das Gegenüber das toll findet? Machen wir das, weil wir aus Pornos denken, dass es so zu funktionieren hat?

Sexualität im Spiegel der Gesellschaft

Ein weiterer wichtiger Aspekt, den wir bei der Betrachtung der menschlichen Sexualität nicht vergessen dürfen, ist der gesellschaftliche Einfluss. In einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft zählen Wachstum und Leistungsoptimierung zu den übergeordneten und erstrebenswerten Zielen. Dies schlägt sich auch in unserer Sexualität nieder. Sie ist ein Schauplatz der Leistung, an dem die Teilnehmer performen und abliefern müssen. Erektionen müssen aufrechterhalten und Orgasmen produziert werden. Am besten sollte laut gestöhnt werden, damit auch noch die Nachbar:innen mitbekommen, dass alle beteiligten Sexpartner:innen eine adäquate Leistung abgeliefert haben.

Der Körper wird zur Ware – zum Kapital, welches es ständig zu verbessern gilt. Schönheitsoperationen nehmen stetig zu. Die Zähne müssen weißer sein als Schnee und die Vorhöfe der Brustwarzen müssen in perfekt errechneter Relation zur Körbchengröße stehen. „Sie als Homosexueller müssen nicht mit so einem dunklen Aftereingang leben”:Das könnte der Werbespruch einer:einess Proktolog:in (Fachärzt:in für den Darm) für sogenannte Anal Bleachings sein. Mit der neuen Modifizierung lege ich mir dann schnell auf einigen Online-Plattformen Profile an – „ich will mich gar nicht mit Leuten treffen, ich muss lediglich meinen ‘Marktwert‘ checken“.

Der Neoliberalismus lehrt uns, dass wir freie und autonome Individuen sein sollen. Wir können und sollen alles erreichen, am besten aus eigenem Antrieb und aus freien Stücken. In dieser vermeintlich neuen Freiheit stehen das Bedürfnis und das Bestreben nach Autonomie im Vordergrund. Nur leider steht Autonomie dem Bedürfnis nach Intimität erstmal gegenüber. Dies hat eine neue Aufgabe zur Folge, nämlich diese beiden Pole unter einen Hut zu bringen – dafür müssen wir uns diesen Bedürfnissen jedoch erst einmal bewusst sein – eine große Herausforderung für jede Beziehung.

Männliche homosexuelle Sexualität

Man könnte annehmen, dass sich Homosexuelle viel mehr mit solchen Dingen auseinandersetzen, da sie sich in ihrer Entwicklung zwangsläufig mit ihrer Sexualität beschäftigen. In der Pubertät lernen wir uns als sexuelle Wesen kennen: Die Alpha Jungs in der Klasse stehen nun auf Marlene und auf Sarah, ich stehe auf Frank. Das ist doof, besonders in dieser Phase der Entwicklung ist es gut, so zu sein wie die anderen und mit dem Strom zu schwimmen verhindert unnötigen Stress. Nun stelle ich fest, ich bin anders als die anderen und ich bin mir sicher, dass ich damit in meinem Umfeld alleine bin. Daher mache ich mich auf die Suche nach Gleichgesinnten – zuerst im Internet und dann in der sogenannten Szene. Dort fühle ich mich wohl und vor allem verstanden. Ich bin kein Außenseiter, alle hier sind anders, genau wie ich. Hier lerne ich, was es bedeutet, schwul zu sein und wie schwule Sexualität funktioniert. Es entsteht ein Narrativ, ein sinnergebendes Bild, das wie folgt oder so ähnlich klingen könnte: „Jeder hat hemmungslosen Sex mit jedem und sieht gut aus dabei.“ Erlernt wird also wie die „Szene“ ihre Sexualität lebt. Nur selten wird jedoch hinterfragt, warum das so ist und vor allem, ob ich als Individuum das eigentlich auch möchte und ob meine Bedürfnisse bei dieser Auslebung auch wirklich passend befriedigt werden. Die Sexualität wird nach einem erlernten Narrativ gelebt und die eigenen Bedürfnisse nicht hinterfragt. Im Übrigen haben Homosexuelle keine anderen Bedürfnisse als Heterosexuelle.

Anmerkungen des Autors

Wissenschaftler:innen würden sagen, dass das Geschriebene probabilistisch und nicht deterministisch zu sehen ist. Damit ist gemeint, dass sich nicht jeder Mensch im Allgemeinen und auch nicht jede:r Homosexuelle oder Narzisst:in im Speziellen so verhält und diesen Gedanken ausgesetzt sein muss. Es besteht jedoch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich einige Leser:innen im ein oder anderen Teil wiedererkennen und damit identifizieren können.

Die aufgeführten Gedanken beruhen sowohl auf psychologischen und sexualwissenschaftlichen Theorien, als auch auf klinische Erfahrungen des Autors als Paar- und Sexualtherapeut. Der Text soll nicht werten oder urteilen, sondern lediglich zum Nachdenken anregen. Wir Menschen sind viel zu komplex, als dass es die eine objektive Wirklichkeit gibt. Vielleicht tragen aber die aufgeführten Gedanken ein Stück dazu bei, dass die/der Leser:in sich mit der individuellen Sexualität beschäftigt und eine subjektive Wahrheit findet – emanzipiert von gesellschaftlichen Konventionen, von Mythen und anderen Konstrukten, die eigentlich gar nicht zu ihm oder ihr passen.