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Warum haben wir Sex? Eine Frage mit vielen Ebenen
Wenn man Menschen fragt, warum sie denn eigentlich Sex haben, ist die erste Antwort meist: „zur Fortpflanzung“. Das ist selbstverständlich auch richtig und wichtig. Das lernen wir schon in der Schule im Biologieunterricht:
„Der Mann führt das erigierte Glied in die Vagina der Frau ein. Nach einer gewissen Zeit der Penetration tritt Sperma aus, das in der Scheide auf eine Eizelle trifft, die sich dann in der weiblichen Gebärmutter einnistet. Neun Monate später kommt dann ein Kind zur Welt“ – das soll also Sexualität sein?
Reproduktion, Lust, Trieb – reicht das als Erklärung?

Klar, wir müssen Sex haben, um uns zu reproduzieren und den Fortbestand der Menschheit zu sichern. Wenn es aber nur darum ginge, würde es ausreichen, fünf Mal im Leben Sex zu haben, denn daraus würden zwei bis drei Kinder entstehen und die Menschheit wäre gerettet. Homosexuelle Paare würden dann aber gar keinen Sex haben – auf natürlichem Weg lassen sich bei schwulem und lesbischem Sex keine Kinder zeugen. Die Fortpflanzung ist außerdem mit der Erfindung von Kondomen, Pillen und anderen Schutzmaßnahmen gut von Sexualität zu trennen. Es muss also noch andere Gründe geben, warum Menschen Sex miteinander haben.
Auf Nachfrage bestätigen die Leute dann auch, dass sie oft einfach „Lust“ haben und einem „Trieb folgen“. Sie müssen mal „Druck ablassen“. Auch das ist natürlich völlig richtig. Die Lustkomponente spielt eine ebenso wichtige Rolle beim Sex. Doch wenn sich Sexualität darauf reduzieren würde, bräuchten wir gar keine anderen Menschen dazu. Wir könnten einfach unter Zuhilfenahme von Fantasien oder pornografischen Medien masturbieren und den Druck so abbauen.
Sex als Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit
Warum haben wir aber denn nun das Bedürfnis Sex mit anderen Menschen zu haben? Auf diese Frage finden schon weniger Befragte adäquate Antworten. „Sexualität und Intimität zur Erfüllung von psychosozialen Grundbedürfnissen“, lautet die sexualwissenschaftliche Erklärung. Wir Menschen sind soziale Wesen, die auf Bindung programmiert sind und sind förmlich auf andere angewiesen, von ihnen abhängig. Wir können zwar stolz auf uns selbst sein, trotzdem hat es eine andere Qualität, wenn uns das beispielsweise unsere Freund:innen und Eltern zeigen. Natürlich können wir uns auch selbst bemitleiden und trösten, die Umarmung einer nahestehenden Person hat jedoch eine tiefere Wirkung. Uns allen gemein sind die Bedürfnisse nach Anerkennung, Nähe, Geborgenheit, Sicherheit, Bestätigung und noch viele mehr. Sexualität ist also eine Art der Kommunikation, die viele dieser Bedürfnisse befriedigen kann. Wenn wir die Bedeutung von sexuellen Handlungen hinterfragen und reflektieren, werden wir feststellen, dass Sexualität deutlich mehr als Reproduktion (Fortpflanzung) und Lustbefriedigung ist.
Sex als Sprache der Intimität
Stellen wir uns doch einfach mal folgende Fragen: Was bedeutet es denn, wenn wir uns vor einer anderen Person nackt machen? Ist das nicht ein Beweis des Vertrauens? Was bedeutet es denn, wenn wir Körperflüssigkeiten austauschen und gegenseitig in uns eindringen? Wir öffnen uns, fühlen uns sicher, teilen etwas Besonderes, fühlen uns angenommen und bestätigt – genau das, was soziale Wesen brauchen. Wir können einer anderen Person sagen, dass sie gut aussieht, dass wir sie mögen, dass wir ihr vertrauen, sie annehmen und akzeptieren oder wir können Sex mit dieser Person haben. Welche Art der Kommunikation hat denn nun den größeren Effekt –die verbale oder körperliche?
Was guter Sex ist – jenseits von Porno und Orgasmusdruck
In modernen Sexualtherapien und -beratungen rückt die Reflexion der Bedeutung in den Vordergrund und damit die sogenannten Störungen und Probleme in den Hintergrund. Bei einer Erektionsstörung kann man durchaus auch mal die Frage stellen, warum eine Erektion überhaupt so wichtig ist für eine erfüllende Sexualität. „Ist so“, „brauche ich, sonst kann ich meine:n Partner:in nicht befriedigen“.
Diese Fehlannahmen werden oft als Naturgesetz anerkannt und akzeptiert. Können denn zwei lesbische Frauen eine erfüllende Sexualität haben? Ja, aha – wie geht das denn ohne erigierten Penis? Die vermeintliche Wichtigkeit der Penisgröße und dessen Erektion wird durch pornografische Medien unterstrichen. Prototypisch sehen wir wie ein durchtrainierter Mann stundenlang in allen möglichen Stellungen seine:n Partner:in in alle zur Verfügung stehende Körperöffnungen penetriert. Seine Handlungen werden vom gegenüber lautstark durch Stöhnen validiert, bis er dann lautstark und gut für die Kamera sichtbar ins Gesicht spritzt. Romantik? Zärtlichkeit? Zuneigung? Fehlanzeige!
Das Internet ist voll mit diesen Darstellungen. Aus sexualwissenschaftlicher Perspektive ist die Überflutung mit Pornografie jedoch nicht ein Zuviel an Sexualität, sondern eher ein Zuwenig[1] . Stets wird nur die Lustdimension abgebildet. Eine Reduzierung darauf bildet allerdings nicht die Wahrheit ab – was wir dort sehen, ist Fiktion und hat mit realer Sexualität nur wenig zu tun.
Wenn er oder sie einen Orgasmus hat, dann kann ich nicht so viel falsch gemacht haben
Was guter Sex ist, wird am Orgasmus der/s Partner:in festgemacht: „Wenn er oder sie einen Orgasmus hat, dann kann ich nicht so viel falsch gemacht haben.“ Aus Orgasmus wird also „OrgasMuss“, um mich selbst in meiner Rolle als Sexualpartner:in zu bestätigen – als „geiler Hengst“ oder als „femme fatale“. Getrieben von dem Gedanken der krampfhaften „OrgasMuss-Produktion“ wird häufig gar nicht wahrgenommen, was denn gerade Schönes und Wundervolles auf dem Weg dorthin passiert. Schade. Vielleicht sollten wir „OrgasMuss“ zugunsten von „OrgasKann“ oder „OrgasDarf“ ersetzen – das könnte der einen oder dem anderen den Druck nehmen.
„Nur Sex?“ – Warum Bedeutung nie nur körperlich ist

„Es war doch nur Sex!“ – ein Satz, den viele schon gehört haben, ob im echten Leben oder im Film. Doch wenn wir ehrlich sind, trifft das „nur“ selten den Kern. Wer seine Beziehung für Sex riskiert, zeigt: Der Akt hat Bedeutung. Oft steckt dahinter das Bedürfnis nach Anerkennung, Wertschätzung oder Bestätigung. Besonders bei Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen spielt Sex eine Rolle als schnelle Bestätigung von außen. Für sie ist Treue oft schwierig – nicht aus Mangel an Moral, sondern aus innerem Mangelgefühl. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die eher ängstlich-vermeidend sind. Hier geht es beim Sex weniger um Anerkennung, sondern mehr um Sicherheit und emotionale Nähe. So zeigt sich: Sex ist selten „nur“ körperlich. Die Motive dahinter sind tief verankert – in Persönlichkeitsmustern und Grundbedürfnissen. Wer die Bedeutung sexueller Begegnungen versteht, kann bewusster handeln – auch in Beziehungen.
Wenn Anerkennung fehlt: Sex als Ersatzstrategie
Nun wird schnell klar, dass wir für die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse als Person gemeint sein müssen und nicht nur als irgendwelche Objekte, die gerade verfügbar sind. In diese missliche Lage geraten wir heutzutage nicht nur in Swingerclubs oder auf Sexpartys, sondern auch bei random oder casual Sexdates, die über Online-Plattformen ausgemacht werden, bei denen das Motto lautet: „Rein, rauf, runter, raus“. Das ist überhaupt gar nicht schlimm oder verwerflich, solange den Akteur:innen dies auch bewusst ist. Häufig entstehen Sexsüchte jedoch genau aus diesem Grund. Diese Menschen suchen, meist unbewusst, nach Anerkennung, Nähe, Sicherheit, Geborgenheit oder Bestätigung.
Nach dem Hochgefühl des Orgasmus folgt in diesen Konstellationen dann aber häufig wieder das Gefühl der Leere – was zur Folge hat, dass sich erneut auf die Suche begeben wird. Um den Kick zu steigern, wird die Anzahl der Sexualpartner:innen erhöht, extremere Praktiken ausprobiert und/oder Drogen konsumiert. Im Grunde sind die Betroffenen nicht dauergeil, sondern eher dauereinsam, im Sinne eines Mangels oder Verlusts der aufgeführten psychosozialen Grundbedürfnisse. Psycholog:innen nennen diesen Zustand Deprivation. Der Versuch dieser Leere mit random Sex zu begegnen, ist vor diesem Hintergrund oft das falsche Pflaster für die Wunde.
Weg von Erektion und Orgasmus, hin zu „ich fühle mich wohl mit dir“, „ich finde dich toll“ und/oder „danke, dass wir diese Intimität teilen“.
Weg von Bumsen, Ficken und Blasen, hin zur Erfüllung psychosozialer Grundbedürfnisse.
Weg von „ich muss funktionieren“, hin zu „ich gebe und nehme sehr achtsam und bewusst.“
In der Praxis sind die Dimensionen der Sexualität natürlich nicht voneinander zu trennen. Um die gelebte und empfundene Sexualität zu verbessern, Funktionsstörungen vorzubeugen und sowohl sich als auch andere nicht in gefährliche Situationen zu bringen, ergibt die Reflexion der verschiedenen Ebenen allerdings durchaus Sinn. Warum mach ich das hier eigentlich? Warum habe ich Sex mit dieser Person? Was passiert hier eigentlich und möchte ich das überhaupt? Lecke oder blase ich gerne, weil ich das mag oder weil ich glaube zu wissen, dass das Gegenüber das toll findet? Machen wir das, weil wir aus Pornos denken, dass es so zu funktionieren hat?
Sexualität im Spiegel der Gesellschaft
Ein weiterer wichtiger Aspekt, den wir bei der Betrachtung der menschlichen Sexualität nicht vergessen dürfen, ist der gesellschaftliche Einfluss. In einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft zählen Wachstum und Leistungsoptimierung zu den übergeordneten und erstrebenswerten Zielen. Dies schlägt sich auch in unserer Sexualität nieder. Sie ist ein Schauplatz der Leistung, an dem die Teilnehmer performen und abliefern müssen. Erektionen müssen aufrechterhalten und Orgasmen produziert werden. Am besten sollte laut gestöhnt werden, damit auch noch die Nachbar:innen mitbekommen, dass alle beteiligten Sexpartner:innen eine adäquate Leistung abgeliefert haben.
Der Körper wird zur Ware – zum Kapital, welches es ständig zu verbessern gilt. Schönheitsoperationen nehmen stetig zu. Die Zähne müssen weißer sein als Schnee und die Vorhöfe der Brustwarzen müssen in perfekt errechneter Relation zur Körbchengröße stehen. „Sie als Homosexueller müssen nicht mit so einem dunklen Aftereingang leben”:Das könnte der Werbespruch einer:einess Proktolog:in (Fachärzt:in für den Darm) für sogenannte Anal Bleachings sein. Mit der neuen Modifizierung lege ich mir dann schnell auf einigen Online-Plattformen Profile an – „ich will mich gar nicht mit Leuten treffen, ich muss lediglich meinen ‘Marktwert‘ checken“.
Der Neoliberalismus lehrt uns, dass wir freie und autonome Individuen sein sollen. Wir können und sollen alles erreichen, am besten aus eigenem Antrieb und aus freien Stücken. In dieser vermeintlich neuen Freiheit stehen das Bedürfnis und das Bestreben nach Autonomie im Vordergrund. Nur leider steht Autonomie dem Bedürfnis nach Intimität erstmal gegenüber. Dies hat eine neue Aufgabe zur Folge, nämlich diese beiden Pole unter einen Hut zu bringen – dafür müssen wir uns diesen Bedürfnissen jedoch erst einmal bewusst sein – eine große Herausforderung für jede Beziehung.
Männliche homosexuelle Sexualität
Homosexuelle setzen sich oft intensiver mit ihrer Sexualität auseinander – meist schon in der Pubertät. Während andere Jungs auf Marlene oder Sarah stehen, merke ich: Ich stehe auf Frank. In dieser Entwicklungsphase ist Anderssein schwierig, Anpassung schützt vor Ausgrenzung. Ich suche Gleichgesinnte – zunächst online, später in der queeren Szene. Dort fühle ich mich angenommen und verstanden. Hier lerne ich, was es bedeutet, schwul zu sein – und wie schwule Sexualität angeblich funktioniert. Ein Narrativ entsteht: hemmungsloser Sex, gut aussehen, alles ausprobieren. Doch kaum jemand fragt: Will ich das wirklich? Entspricht das meinen Bedürfnissen? Häufig wird die Sexualität übernommen, ohne sie zu reflektieren. Dabei sind die Bedürfnisse von Homosexuellen nicht anders als die von Heterosexuellen – Nähe, Geborgenheit, Selbstbestimmung. Es lohnt sich, sexuelle Muster zu hinterfragen und eigene Wünsche bewusst zu leben.
Anmerkungen des Autors
Wissenschaftler:innen würden sagen, dass das Geschriebene probabilistisch und nicht deterministisch zu sehen ist. Damit ist gemeint, dass sich nicht jeder Mensch im Allgemeinen und auch nicht jede:r Homosexuelle oder Narzisst:in im Speziellen so verhält und diesen Gedanken ausgesetzt sein muss. Es besteht jedoch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich einige Leser:innen im ein oder anderen Teil wiedererkennen und damit identifizieren können.
Die aufgeführten Gedanken beruhen sowohl auf psychologischen und sexualwissenschaftlichen Theorien, als auch auf klinische Erfahrungen des Autors als Paar- und Sexualtherapeut. Der Text soll nicht werten oder urteilen, sondern lediglich zum Nachdenken anregen. Wir Menschen sind viel zu komplex, als dass es die eine objektive Wirklichkeit gibt. Vielleicht tragen aber die aufgeführten Gedanken ein Stück dazu bei, dass die/der Leser:in sich mit der individuellen Sexualität beschäftigt und eine subjektive Wahrheit findet – emanzipiert von gesellschaftlichen Konventionen, von Mythen und anderen Konstrukten, die eigentlich gar nicht zu ihm oder ihr passen.
3 Kommentare
„Fühle mich oft unter Druck, ‚performen‘ zu müssen. Dabei will ich eigentlich nur Intimität erleben, ohne Bewertung.“
„Ich finde es richtig gut, dass ihr das Thema so ehrlich angeht. Für mich ist Sex oft mehr Kopfsache als körperlich – ich brauche Vertrauen, sonst funktioniert gar nichts. Schön, dass das auch mal benannt wird. Mehr davon, bitte!“
„Mir hat besonders gefallen, dass es nicht nur um Lust oder Technik geht, sondern um Gefühle, Druck, Nähe. Ich glaube, viele schwule Männer haben verlernt, sich beim Sex wirklich zu zeigen. Der Text macht Mut, das zu ändern.“