Einmal, als Orlando und ich uns auf einem Pflaumenstrauch fläzten, fiel sein Sombrero herunter. Ich schnappte mir den Hut, rannte davon und versteckte mich hinter einer Pflanze, an einem abgeschiedenen Ort. Er verstand genau, was ich wollte; wir zogen unsere Hosen herunter und begannen zu masturbieren.
(Reinaldo Arenas: Bevor es Nacht wird)
Nackt im Wald – und nicht allein
Der Pfad im Grunewald ist ein verschlungenes Labyrinth, wie von Menschenhand angelegt. Oder wohl eher: von Menschenfuß. Lediglich meine Schritte sind zu hören, ab und zu ein Vogelruf. Die Temperatur ist angenehm an diesem Nachmittag im späten Mai. Außer meinen Sneakers bin ich nackt. Ich erhasche den Blick von einem Mann, der ebenfalls nackt ist, an einen Baum gelehnt. Vor ihm kniet ein anderer Mann und bläst seinen Schwanz. Der Mann schaut mich ungerührt an, doch ich senke meinen Blick. Jede Faser in meinem Körper zieht mich zum Ort des Geschehens, doch ein weiterer Impuls in mir ist stärker und ich gehe weiter.
Vom Schreiben zum Selbstversuch
Als ich angefragt werde, einen Text über Cruising-Orte zu schreiben, ist mein erster Gedanke: Ich habe gar nicht viel Erfahrung mit Cruising. Also mache ich mich auf eine Spurensuche, lese Texte, befrage Freunde, krame in meiner Erinnerung und mache einen Selbstversuch im Grunewald.
Ich erinnere mich an den letzten Sommer, als ich am Schwulen-Strand in Sitges zusammen mit meinem Partner zu den etwas abgelegenen Höhlen ging. Ich erinnere mich, wie aufregend es war, mit ihm zusammen diesen Ort zu entdecken. Wie wir zuerst zu zweit rumgemacht haben, und später mit einer ganzen Gruppe von Jungs. Wie ich ganz in mir zu ruhen schien, meine Knie aufgerieben vom Sand, umspült von den regelmäßigen Wellen des Mittelmeers.
Cruising, schreibt Henry Hagemann in seiner historischen Spurensuche Cruising-Orte, ist eine historisch gewachsene Praktik, bei der schwule Männer und queere Menschen im semi-öffentlichen Raum mithilfe von Codes und nonverbaler Kommunikation nach schneller Intimität suchen.
Die Anonymität beim Cruising bietet einerseits Schutz vor strafrechtlicher und gesellschaftlicher Diskriminierung, andererseits ist die potentielle Gefahr, erwischt zu werden, mit Nervenkitzel und Spannung verbunden, was die sexuelle Begierde noch befeuert.
Cruising: Zwischen Kunst und Blickkontakt
Ich trete zurück auf die Lichtung im Grunewald, wo ein Freund von mir auf unsere Sachen aufpasst. “Und?” Ich schüttle den Kopf. Wir sprechen weiter über die “unvollkommene Kunst” des Cruisings, wie es der mexikanische Aktivist und Autor Leo Herrera nennt. “Tu so, als wärst du in einem Museum. Du bist entweder die Kunst oder der Betrachter”, schreibt Herrera in seinem (analog) Cruising Manual. Mein Freund beschreibt dies so:
“Wenn du jemanden siehst, den du attraktiv findest, schaust du ihm in die Augen, wenn nicht, vermeidest du den Blickkontakt.” Ich erinnere mich an so viele Momente in meinem Leben, in denen ich meinen Blick abgewandt habe obwohl oder gerade weil ich jemanden attraktiv fand. Naiv frage ich, ob beim Cruising Lächeln erlaubt ist. “Das kannst du, wenn du niedlich sein willst – meistens greifst du dir aber einfach in den Schritt. Wenn dies beide machen, kommt ihr zur Sache.” Herrera schreibt von einem “smirk”, was sich vielleicht mit “vielsagendes Grinsen” übersetzen lässt. Den Blick halten, ein vielsagendes Grinsen, sich an den Schwanz fassen… Ich fühle mich komplett ungeübt in dieser kodierten Sprache, die vielmehr ein kodiertes Schweigen ist, das laut Herrera “sowohl der Sicherheit als auch der Fantasie” dienen soll.
Gerade diese Fantasien sind es, die die von mir befragten Cruiser in den Vordergrund stellen: “Ich habe eine bestimmte Fantasie und begebe mich auf die Jagd nach jemandem, der diese Rolle spielen kann.” Ein weiterer Freund, den ich auf der FKK-Wiese in der Hasenheide treffe, erzählt:
“Cruising ist eine aufregende und überraschende Erfahrung. Wer befindet sich hinter der nächsten Ecke? Der Daddy, der mich hart rannimmt? Der TwinkTwink ist ein Begriff aus der queeren Szene, besonders unter schwulen und bisexuellen Männern. Er beschreibt einen bestimmten Körper- und Erscheinun... Mehr, der mir einen bläst?”
Cruising – breiter als gedacht
Ich lese, dass Charles Baudelaire und Oscar Wilde als prominente erste Cruiser gelten könnten. Das Flanieren wohlsituierter Männer war kein ungewöhnliches Bild im viktorianischen England. Ich erinnere mich, wie ich mit 19 Jahren beim Flanieren auf Manhattans Straßen von einem Mann angesprochen wurde und dann mit ihm nach Hause ging. Das Gleiche passierte mir mit 34 nochmals, als ich das erste Mal in Madrid war. Vielleicht waren das Cruising-Erfahrungen ohne dass ich sie als solche benannt hätte. Vielleicht war meine bisherige Definition von Cruising als anonymer Sex in Parks und “Klappen” etwas zu eng gefasst.
Klappen, also öffentliche Toiletten, sind prädestiniert für Cruising: Am Urinal wird der Schwanz eines potentiellen Sexpartners in Augenschein genommen. Die meisten Freunde, mit denen ich über Cruising spreche, sind keine Fans von Klappen-Sex – es sei eine weniger persönliche Begegnung als in der freien Natur. Doch Klappen und Autobahnraststätten bieten eine höhere Anonymität für ungeoutete oder nicht schwulSchwul bezeichnet Männer, die sich romantisch und/oder sexuell zu Männern hingezogen fühlen. Wichtiges zum Begriff: • „Schwul“ ist die gebrä... Mehr lebende Cruiser – im Gegensatz etwa zu schwulen Bars, Kneipen und Saunas, deren oft labyrinthische Ausgestaltung wohlgemerkt an die verschlungenen Wege in Parkanlagen und Wäldern erinnert.
Cruising – Instinkt oder Zufall?
Mir wird bewusst, dass ich mich mein Leben lang immer wieder an Cruising-Orten wiedergefunden habe. Geschah dies eher zufällig? Oder aufgrund eines angeborenen “schwulen Instinkts”? Ich mochte es schon immer, nackt auf der Werdinsel in Zürich oder in der Hasenheide in Berlin zu liegen, meistens in ein Buch vertieft. Denke ich an Hundert Jahre Einsamkeit, denke ich gleichzeitig an den FKK-Strand am Müggelsee. Wie viele interessierte und interessante Männer sind da wohl an meinem nackten Hintern vorbeigegangen, während ich – scheinbar oder tatsächlich – nur Augen für Aureliano Buendía, den introvertierten Protagonisten des Romans, hatte?
Die Verbundenheit zwischen Natur und schwulem Sex hat eine lange Tradition: Reinaldo Arenas – kubanischer Schriftsteller und Dissident – wusste bei seiner ersten sexuellen Erfahrung Anfang der 1950er Jahre instinktiv, dass das, was er mit seinem Cousin Orlando tun wollte, an einem abgeschiedenen Ort stattfinden musste. Cruising-Orte in der Natur sind meistens ein wenig schwerer zu erreichen – während die Familien mit Kindern, Autos und tausend Sachen sich am Strand neben dem Parkplatz tummeln, wandert der Cruiser weiter den Strand entlang, klettert womöglich über Felsen und kämpft sich durch Gebüsch, bis er zu einer Lagune gelangt mit Höhlen und glasklarem Wasser.
Cruising-Orte als Schutzräume queerer Freiheit
Durch die Praktik des Cruisings eignen sich die Cruiser weniger zugängliche Orte “in spiritueller Weise” an, wie es ein Freund nennt. So werden Cruising-Räume zu einer queeren Utopie: von der urteilenden Außenwelt abgeschiedene Orte, an dem wir unsere eigenen und fremde Körper – unsere Sexualität – ohne Scham genießen können. Oder, um den kubanoamerikanischen Theoretiker José Esteban Muñoz zu paraphrasieren: Cruising als die vorsichtige Suche nach neuen Formen des Begehrens und Lebens, nach einem besseren „Dort“ im Gegensatz zu einem genormten „Hier“.
Dass diese utopischen Räume auch in der Realität Bestand haben können, ist von einem delikaten Gleichgewicht zwischen politischen Entscheidungsträgern und den Cruisenden selbst abhängig. In der Hasenheide zum Beispiel sind gerade große Areale abgesperrt, weil neue Bäume und neues Gras gepflanzt werden. Ausgerechnet die FKK-Wiese ist jedoch nicht abgesperrt. Scheinbar ist die politische Obrigkeit hier darum besorgt, diesen Raum zu erhalten.
Vom Schutzraum zum Ziel von Repression
Doch das ist nicht immer der Fall: Oft werden Cruising-Gebiete bewusst zerstört, indem etwa Büsche beschnitten werden, untermalt von sexfeindlichen und homophoben öffentlichen Diskursen. Auch wurden – und werden in vielen Teilen der Welt immer noch – Cruising-Räume gezielt von Undercover-Polizisten genutzt, um homosexuelle Handlungen zu kriminalisieren. Ein schönes Gegenbeispiel ist das offiziell ausgeschilderte Cruising-Gebiet in Amsterdam. Hier sorgen die Cruisenden im Gegenzug dafür, dass sich das Cruising auf diesen spezifischen Raum beschränkt und nicht außer Kontrolle gerät.
Ich erinnere mich, wie ich vor zwei Jahren im spanischen Tarragona an einem einsamen Strand einen Mann traf – mit dem ich zuvor auf Grindr getextet habe. Schon immer fiel es mir leichter, mit Männern online in Kontakt zu treten, obwohl ich als Xennial sehr wohl noch eine Welt ohne Internet kannte. Meine ersten sexuellen Kontakte lernte ich meist beim Tanzen in Schwulenclubs kennen. Zwar sind auch das schwule Tanzlokal und die Dating-App Cruising-Räume. Der Freund in der Hasenheide hält jedoch nicht viel vom Online-Cruising: “Du kannst zwei Stunden auf Grindr verbringen, um – vielleicht – den perfekten Typen zu finden. Beim Cruising draußen habe ich aber oft eine höhere Erfolgsquote, und es macht definitiv mehr Spaß als endloses Chatten.”
Ein Spaziergang in die eigene Sehnsucht
Bei meinem Selbstversuch gehe ich ein zweites Mal durch die labyrinthischen Büsche im Grunewald. Inzwischen ist die Dämmerung angebrochen, die Luft ist kühler – und ich treffe auf niemanden mehr. Während ich meinen Schritten und den Vögeln zuhöre, frage ich mich, was mich davon abhält, mehr rauszugehen zum Cruisen, warum ich Sex fast ausschließlich auf Apps suche. Wahrscheinlich hat das auch mit einer gewissen Performance-Angst zu tun, verschärft durch die ganzen internalisierten Bilder von schwulen Pornos.
Vieles, was ich bei meiner Recherche über Cruising erfahren habe, fasziniert mich: der Sex im Freien, die Offenheit gegenüber verschiedenen Körpern, das Verfolgen von Fantasien, das Überrascht-Werden im Moment, das Utopische dieser Orte, die historische und spirituelle Verbindung zu meinen queeren Vorfahren, Cruising als rebellischer Gegenentwurf zu homosexuellen Lebensentwürfen, die sich immer mehr der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft angleichen. Und vielleicht könnte diese ArtDie Abkürzung ART steht für antiretrovirale Therapie. • Sie bezeichnet die Behandlung einer HIV-Infektion mit speziellen Medikamenten, die die Ver... Mehr von Cruising sogar gewisse Aspekte meiner – auch nach 30 Jahren noch schambehafteten – Sexualität heilen.
Ich trete aus dem Wald hinaus auf die Lichtung und fasse den Entschluss, in Zukunft öfter herzukommen.