Der Kampf mit „unzüchtigen Schriften“ – heute und vor 100 Jahren

Das Medium einer Organisation, die im Interesse queerer Menschen in Deutschland agiert, wird aufgrund von angeblich pornographischen Inhalten eingestellt. Klingt nach einem klassischen Beispiel der Zensur aus den 1920er Jahren? Vielleicht, aber es ist auch eine Geschichte aus dem Jahr 2025.
Filmposter von „Anders als die Andern“ (1920) – erster queerer Spielfilm in Deutschland, später zensiert

Was gilt überhaupt als Nacktheit?

Unser YouTube-Kanal wurde Anfang Juni gesperrt. Grund? Angebliche „Nacktheit“. Diese Art von Sperren wirft oft die Frage nach queerer Zensur auf. Man könnte hier darüber diskutieren, was die Darstellung von Nacktheit überhaupt bedeutet. Ist es einfach bloße Haut, also zum Beispiel ein Video von fröhlichen Männern ohne Oberteil, die ihre Gesellschaft genießen, sich aber auf keinen Fall sexuell betätigen? Oder wird eine Abbildung erst dann als pornografisch eingestuft, wenn Geschlechtsteile sichtbar sind, unabhängig vom Kontext? Ist Nacktheit immer etwas Schlechtes oder kann sie auch guten Zwecken dienen?

Dass man sich im Jahr 2025 solche Fragen stellen muss, verdeutlicht am besten, wie weit die Gesellschaft durch den Rechtsruck der letzten Jahre zurückgefallen ist. Wir täuschen uns nicht: Es ist kein Zufall, dass dieser Schritt ausgerechnet in einer Zeit erfolgt, in der rechte und rechtsextreme Diskurse drastisch zunehmen und die U.S.-amerikanischen Großkonzerne – unsere angeblichen „Verbündeten“ – sich unter dem Einfluss von Donald Trumps Anti-„Woke“-Politik selbst demaskieren. Sobald ein anderer politischer Wind weht und sich die Unterstützung nicht mehr lohnt, zeigen die Großen wie Meta und Alphabet ihr wahres Gesicht. Die Rechte von LSBTIQ+-Menschen haben sie nie ernst gemeint, sie wollten damit nur Geld verdienen. Dass das, was als Richtlinienverstoß definiert wird, in erster Linie Diversity-Bestrebungen – darunter queere Aufklärung und Präventionsarbeit – trifft, ist symptomatisch.

Abgesehen davon, dass Nacktheit einfach ästhetisch ist – das wussten schon die Künstler der Antike –, spielte sie in der modernen Geschichte oftmals sogar eine aktivistische und politische Rolle. Der Kampf gegen Nacktheit (sowohl tatsächliche als auch vermeintliche) in jeder Form ist ebenso alt. Im folgenden Beitrag sollen Parallelen zwischen der heutigen und der ersten deutschen queeren Bewegung (ca. 1897–1933) aufgezeigt werden. Der Kontext ist zwar ein anderer, doch die Herausforderungen sind alles andere als neu.

Die Anfänge eines Kampfs um Selbstbestimmung

Der moderne queere Aktivismus hat seinen Ursprung im späten neunzehnten Jahrhundert in Deutschland. Die in erster Linie publizistische Aktivität des frühen Pioniers Karl Heinrich Ulrichs (1825–1895) beeinflusste die späteren Mitstreiter*innen stark. Dennoch veröffentlichte Ulrichs seine Schriften unter dem Pseudonym „Numa Numantius“, da die Konsequenzen einer affirmativen Behandlung von Homosexualität gravierend hätten sein können.

Titelblatt von Karl Heinrich Ulrichs’ Schrift „Vindex“ von 1864 – eine der ersten juristischen Verteidigungen homosexueller Liebe.
“Vindex”, die erste Schrift von Karl Heinrich Ulrichs, die unter dem Pseudonym „Numa Numantius“ veröffentlicht wurde. Quelle: Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ulrichs_1_-_Vindex.jpg)

Von Ulrichs ließ sich ein weiterer queerer Pionier beeinflussen, und zwar Magnus Hirschfeld (1868-1935), Mitgründer des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK) und Herausgeber seines Organs, des „Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen“. 1919 gründete er das Institut für Sexualwissenschaft, die erste weltweit anerkannte queere Aufklärungseinrichtung, die bald nach der Machtübernahme durch die Nazis geplündert wurde. Was Hirschfeld von anderen Anführern der „Homosexuellen“-Bewegung unterschied, war seine Inklusivität gegenüber verschiedenen Formen des Queer-Seins und unterschiedlichen sozialen Gruppen: „Tanten“, effeminierten Männern, maskulinen Frauen, trans* Menschen sowie Sexarbeiter*innen.

Männliche Prostitution explizit war ein zentraler Streitpunkt im queeraktivistischen Milieu der Zeit. Unter der Leitung von Friedrich Radszuweit handelte der Bund für Menschenrecht (BfM), die ab 1923 führende und größte queere Dachorganisation in Deutschland, nach dem Leitprinzip der „Respektabilität“, das die Solidarität mit „unanständigen“ Queers opferte. Die 1903 gegründete Gemeinschaft der Eigenen (GdE) hingegen war eine reinmännliche Gruppierung von elitären und konservativen Antifeministen, die Frauen lediglich in einer untergeordneten Rolle als Mütter und Hauspflegerinnen sahen.

Der Kampf mit „unzüchtigen Schriften“

Trotz seiner problematischen ideologischen Haltung hat auch Adolf Brand (1874-1945), Mitgründer und langjähriger Leiter der GdE, einige Verdienste um die queere Emanzipation. Die von ihm ab 1896 unregelmäßig herausgegebene Zeitschrift „Der Eigene“ ist nach aktuellem Kenntnisstand die erste homosexuelle Zeitschrift der Welt, auch wenn sie sich an eine eher gehobene (und implizit männliche) Leserschaft richtete. Da „Der Eigene“ öfter Abbildungen von nackten Männern enthielt und damit gegen den Paragraf 184 (Verkauf und Verbreitung „unzüchtiger“ Schriften) verstieß, musste sich Brand mehrmals vor Gericht verantworten und sogar Haftstrafen verbüßen. Dem „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen“ als einer wissenschaftlichen Publikation ist es übrigens gelungen, von einem ähnlichen Schicksal verschont zu bleiben.

Titelseite der Zeitschrift „Der Eigene“ von 1919 mit zwei nackten Männern im Garten – ein Beispiel früher queerer Selbstrepräsentation und der damit verbundenen Zensurgeschichte.
Eine Ausgabe von “Der Eigene” aus dem Jahr 1919. Die Zeitschrift enthielt regelmäßig Abbildungen von nackten Männern und sogar Jungs und Jugendlichen. Quelle: Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Der_Eigene_1919_vol_7.jpg) Quelle: Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ulrichs_1_-_Vindex.jpg)

Es muss hier angemerkt werden, dass viele Fotos in „Der Eigene“ auch aus heutiger Sicht tatsächlich sehr problematisch sind, weil sie oftmals nackte Jungs und Jugendlichen darstellen. Thematisiert wurde dies unter anderem in der Ausstellung „Aufarbeiten: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Zeichen von Emanzipation“ im Schwulen Museum Ende 2023 und Anfang 2024.

Nach dem Inkrafttreten der Weimarer Verfassung 1919 entwickelte sich die queere Emanzipation zu einer Massenbewegung. Ermöglicht wurde dies durch die Herausgabe der Zeitschrift „Die Freundschaft“, die queere Menschen in ganz Deutschland vernetzte und die Gründung von lokalen „Freundschaftsvereinen“ in Gang setzte. Doch von Anfang an musste die Redaktion mit Unannehmlichkeiten rechnen: Bereits in den ersten Wochen erfolgte eine Meldung an die Behörden. Zwar wurde der Herausgeber Karl Schultz im März 1920 von der Anklage der Verletzung der Sittlichkeit gemäß § 184 freigesprochen, ein Jahr später wurde er jedoch zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt.

Inseratenseite aus der Zeitschrift „Die Freundschaft“ mit Kontaktanzeigen queerer Männer – historisches Beispiel für queere Vernetzung und Sichtbarkeit in der Weimarer Republik.
Eine Beispiel-Inseratenseite aus „Die Freundin“. Annoncen waren öfter Gegenstand großer Kontroversen und sogar strafrechtlicher Verfahren. Quelle: Forum Queeres Archiv München (https://archiv.forummuenchen.org/zeitschrift/die-freundin/)

Diesmal lautete die Straftat Kuppelei. Wie wurde diese Anklage begründet? Ausschlaggebend dafür waren die Inserate, also persönliche Annoncen, die das Kennenlernen und womöglich – so die Argumentation des Gerichts – auch den sexuellen Kontakt von queeren Menschen förderten. Folglich verschwanden sie aus der Zeitschrift und waren nun nur noch im Rahmen eines Abonnements eines separaten Extrablatts erhältlich.

Bewahrung der Jugend

Im Februar 1923 kehrten die rechtlichen Probleme von „Die Freundschaft“ zurück. Im Zuge eines erneuten Zensurverfahrens wurde die Zeitschrift von den Behörden für drei Monate eingestellt. 1926 verabschiedete der Reichstag das Gesetz „zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften“, an dessen Entstehung die christlichen „Sittlichkeitsvereine“ maßgeblich beteiligt waren. Es führte eine Liste unzüchtiger Schriften ein, die nicht nur queere Literatur umfasste und auf die individuelle Ausgaben gesetzt werden konnten. Ein entsprechender Eintrag bedeutete, dass die jeweilige Ausgabe nicht öffentlich ausgelegt, sondern nur noch auf Anfrage (also quasi unter dem Ladentisch) verkauft werden durfte. Begründet wurde dies, wie der Name des Gesetzes schon andeutet, mit Jugendschutz.

Etliche Ausgaben von queeren Zeitschriften, darunter „Frauenliebe“ im Jahr 1927 und „Die Insel“ im Jahr 1928, haben es auf die Liste geschafft. Eine übliche Gegenstrategie war es, die Zeitschrift unter einem anderen Titel zu verkaufen, um die Ausgabenkontinuität nicht zu unterbrechen. So wurde „Die Freundin” in den Jahren 1928–29 als „Ledige Frauen” verkauft, nachdem die Erstere auf die Liste gesetzt worden war. Manchmal gerieten einzelne Zeitungshändler in Schwierigkeiten, ohne dass sie über das Verbot einzelner Ausgaben Bescheid wussten.

Andere Facetten der Zensur

Auch Romane und Filme fielen der Zensur zum Opfer. Ein Beispiel ist Walter Homanns Tagebuch einer männlichen Braut, das von der Geschichte der selbsternannten „Comtesse“ (oder Gräfin) Dina Alma de Paradeda inspiriert wurde. Sogar zweimal (1907 und 1928) wurde der Roman Gegenstand eines Zensurverfahrens. Auch wenn beide Prozesse für das Buch positiv ausgingen, führte das große Aufsehen um die Publikation dazu, dass in den nächsten Ausgaben das kontroverseste Material gekürzt wurde.

Buchcover von Walter Homanns „Tagebuch einer männlichen Braut“ mit einer historischen Fotografie einer Person in einem Hochzeitskleid – inspiriert von der trans Identität von Dina Alma de Paradeda.
Walter Homanns Roman „Tagebuch einer männlichen Braut“. Auch wenn die zwei Zensurverfahren scheiterten, mussten Kürzungen des kontroversesten Materials vorgenommen werden. Quelle: Männerschwarm Verlag (https://www.maennerschwarm.de/buch/tagebuch-einer-maennlichen-braut/)

Der erste deutsche Film und einer der ersten weltweit, die Homosexualität thematisierten – Richard Oswalds Anders als die Andern -, wurde im August 1920, über ein Jahr nach seiner Premiere, verboten. Die Produktion handelt zwar von der gleichgeschlechtlichen Liebe eines Musikers zu seinem erwachsenen Schüler, Zärtlichkeiten sind darin jedoch kaum zu sehen, geschweige denn ein Kuss. Trotzdem löste der Film riesige Kontroversen aus und es kam in vielen Städten deutschlandweit zu Protesten gegen die Ausstrahlung.

Filmposter von „Anders als die Andern“ (1920) – erster deutscher Spielfilm mit homosexuellem Thema, mit wissenschaftlicher Beratung durch Magnus Hirschfeld.
Poster des Films „Anders als die Andern“, der im August 1920 nach über einem Jahr von Protesten verboten wurde. Quelle: Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Anders_als_die_andern_1919_poster.jpg)

Hirschfeld, der maßgeblich an dem Film mitwirkte und aufgrund seiner Tätigkeit schon früher Anfeindungen ausgesetzt gewesen war, wurde infolge der Kontroversen zum Erzfeind der Rechtsextremen. Er wurde mehrmals überfallen, im Oktober 1920 in München sogar so schlimm, dass einige Zeitungen vorschnell seinen Tod verkündeten. Einige seiner Vorträge wurden unter ausdrücklicher Bezugnahme auf seine Mitarbeit beim Film abgesagt, andere arteten in Randale mit dem Einsatz von Stinkbomben und Feuerwerkskörpern aus.

Eine andere Form der „Zensur“ und Einschüchterung, die einen eigenen Artikel verdient, ist die polizeiliche Überwachung queerer Treffpunkte. In Städten wie Dresden, Chemnitz, München und Hannover wurden Queers in den 1920ern sogar registriert und verhört. Auch Razzien waren keine Seltenheit: So wurde beispielsweise am 2. Juli 1921 eine Party des Görlitzer Freundschaftsvereins im Hotel Namenlos durch eine Aktion der lokalen Polizei unterbrochen. Insgesamt wurden 23 Personen festgenommen und bis 12 Uhr am nächsten Tag inhaftiert, zwei davon sogar einen Tag länger. Der Vorwurf lautete Zuhälterei, letztendlich wurde jedoch keine Anklage erhoben.

Technologische Repression

Heute leben wir natürlich in einer anderen Welt und genießen deutlich mehr Akzeptanz und Rechte als unsere queeren Vorfahren. Doch gerade diese werden zunehmend in Frage gestellt, sodass die Errungenschaften der Kämpfe der letzten sechzig Jahre in Gefahr geraten. Vor diesem Hintergrund erscheint die Allianz der Rechtsextremen mit großen Technologiekonzernen umso erschreckender.

Was vor einhundert Jahren offenkundig und aggressiv von Behörden als Unzucht, Verletzung der Sittlichkeit oder im Namen des Jugendschutzes bekämpft wurde, wird heute viel subtiler und scheinbar harmloser angegangen. Unter dem Deckmantel der „Community Guidelines“, „Safe” oder „Advertiser-friendly Content“ werden queere Inhalte, Safer-Sex-Aufklärung und HIV-Prävention zensiert. Dabei sind manche Formen der Zensur, wie zum Beispiel das Shadow-Banning oder Altersbeschränkungen, nicht sofort erkennbar und somit viel unsichtbarer. Außerdem werden Entscheidungen über die Zulassung von Online-Inhalten nicht von Menschen, sondern immer mehr von Algorithmen getroffen.

Dies kann im schlimmsten Szenario Leben kosten. Vor allem queere Jugendliche brauchen Zugang zu Informationen, die sie nicht nur über sexuelle Gesundheit aufklären, sondern auch vor Minderwertigkeitsgefühlen oder sogar Selbstmordgedanken schützen. HIV-Prävention und queere Bildungsarbeit darf unter keinen Umständen Opfer des Algorithmus-Regimes fallen.

Immer wenn vor den Gefahren der zunehmenden rechten Radikalisierung der Gesellschaft und der Möglichkeit einer rechtsextremen Regierung gewarnt wird, sagen viele: „So schlimm wird es nicht sein.“ Genauso hat man auch vor ein hundert Jahren die Perspektive einer Machtübernahme durch Adolf Hitler kleingeredet. Vor ein paar Jahren schien das Risiko eines politischen Datenmissbrauchs durch US-amerikanische Big-Tech-Konzerne ebenfalls unwahrscheinlich und wurde von vielen bagatellisiert. Heute dürfen wir uns dessen nicht mehr so sicher sein.

Bibliographie

Beachy, Robert. Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity. 2014. New York City: Vintage Books, 2015.

Foit, Mathias. Queer Urbanisms in Wilhelmine and Weimar Germany: Of Towns and Villages. Cham, Schweiz: Palgrave Macmillan, 2023.

Dobler, Jens. “Nachwort.” In Tagebuch einer männlichen Braut, hrsg. Dobler, 154–175. Hamburg: Männerschwarm Verlag, 2010.

—. Polizei und Homosexuelle in der Weimarer Republik: Zur Konstruktion des Sündenbabels. Berlin: Metropol Verlag, 2020.

—.“Zensur von Büchern und Zeitschriften mit homosexueller Thematik in der Weimarer Republik.” Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten 2 (2000): 85–104.

Malakaj, Ervin. Anders als die Andern. Montreal, Quebec: McGill-Queen’s University Press, 2023.

Micheler, Stefan. Zeitschriften, Verbände und Lokale gleichgeschlechtlich begehrender Menschen in der Weimarer Republik. Stefan Micheler Homepage. August 1, 2008. www.StefanMicheler.de/zvlggbm/stm_zvlggbm.pdf.

Vendrell, Javier Samper. The Seduction of Youth: Print Culture and Homosexual Rights in the Weimar Republic. Toronto: University of Toronto Press, 2020.

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Stellungnahme von IWWIT:

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