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Rassismus und Transfeindlichkeit in der schwulen Community: Für eine authentische Selbstreflexion!

Unser Autor, selbst weißer schwuler cis Mann, beobachtet manchmal ein gewisses Unwohlsein unter weißen schwulen cis Männern bei Diskussionen um Rassismus, Transfeindlichkeit und anderen Diskriminierungsformen in der schwulen Community. Dabei ist er davon überzeugt, dass eine Auseinandersetzung mit unseren inneren Konflikten zu mehr Empathie und Inklusion führen könnte. Ein Plädoyer.

Ich bin ein weißer schwuler cis Mann. Und ich richte mich hier insbesondere an andere weiße schwule cis Männer. In einer Zeit, in der die Diskussionen um Gender, Inklusion, Diversität, Intersektionalität, Transfeindlichkeit und Rassismus auch innerhalb der schwulen Community immer lauter werden, empfinden nicht gerade wenige, vor allem weiße cis Schwule ein gewisses Unwohlsein.

Vor Kurzem habe ich beobachtet, wie dieses Unwohlsein von einem anderen weißen schwulen cis Mann als Scham beschrieben wurde. Die Diskussion um Vielfalt und Anti-Diskriminierung, zum Beispiel auch um Rassismus innerhalb der schwulen Community, würde bei schwulen, queeren und bi+ Männern (implizit gemeint war hier natürlich bei weißen cis schwulen und bi+ Männern) Schamgefühle verstärken. Und das obwohl die Präventions- und Communityarbeit – zum Beispiel auch von Aidshilfen – doch eigentlich Schamgefühle abbauen und schwule Sexualität positiv bestärken soll.

Doch handelt es sich bei diesem Unwohlsein wirklich um Scham? Oder könnte es sich dabei nicht um ein anderes Phänomen – und zwar um kognitive Dissonanz – handeln?

Kognitive Dissonanz verstehen

Aber was ist kognitive Dissonanz? Der Begriff kommt aus der Sozialpsychologie. Kognitive Dissonanz bezeichnet einen als unangenehm empfundenen Gefühlszustand, der dann entsteht, wenn zwei zugleich bei einer Person bestehende Kognitionen einander widersprechen.

Uff! Klingt kompliziert! Vereinfacht ausgedrückt: Es ist zum Beispiel das Gefühl, das wir haben, wenn das, was wir tun, nicht mit dem übereinstimmt, was wir glauben oder für richtig halten. Dieses teils unbewusste unangenehme Gefühl der kognitiven Dissonanz entsteht beispielsweise, wenn wir der Überzeugung sind, dass es dringend geboten sei, weniger CO2 in die Umwelt zu pusten, und gleichzeitig aber mit dem Flugzeug von Hamburg nach München fliegen. Unsere Überzeugung („wir müssen CO2 einsparen“) steht dann nicht im Einklang mit unserer Handlung („ich stoße mit meinem kurzen Inlandsflug gerade ganz viel CO2 in die Luft“). Das löst ein unangenehmes Gefühl bei Menschen aus. Und dieses Gefühl nennt man kognitive Dissonanz.

Kognitive Dissonanz in der schwulen Community

Dieses Gefühl der kognitiven Dissonanz kann logischerweise auch dann entstehen, wenn wir an die Gleichwertigkeit der Menschen, an Diversität und Respekt glauben, aber dann zum Beispiel (auch unbewusst) Transfeindlichkeit oder Rassismus reproduzieren. Und besonders dann wenn uns jemand darauf aufmerksam macht.

Auch in der schwulen Community finden wir uns häufiger in Diskussionen über Themen wie Gewalt, Macht, Konsens, Transfeindlichkeit, Rassismus und #MeToo wieder. Aber weil wir den Begriff der kognitiven Dissonanz nicht kennen, weil wir das Konzept dahinter nicht verstehen, kann uns das folglich auch nicht komplett bewusst sein, was das genau für ein unangenehmes Gefühl ist, was wir da empfinden. Trotzdem nehmen wir dieses unangenehme Gefühl wahr. Und weil wir es nicht richtig einordnen können, geben wir ihm dann manchmal einen anderen Namen. Zum Beispiel Scham.

Die Rolle der Scham

Scham gibt es tatsächlich sehr viel bei uns schwulen, queeren und bi+ Männern. Scham spielt eine zentrale Rolle in unserer Sozialisierung. Viel zu oft verinnerlichen wir die Scham, die uns die Mehrheitsgesellschaft auferlegt. Uns wird beigebracht: Wir sind nicht richtig. Und wir müssen uns für unsere Sexualität schämen.

Diese Scham ist real. Und muss bekämpft werden. Sie ist aber nicht das gleiche wie die kognitive Dissonanz, die sich zwar durchaus auch als Scham äußern kann, aber nicht von außen kommt, sondern eben von jenem inneren Konflikt zwischen dem, an das wir glauben, und dem, was wir tun. Kognitive Dissonanz suggeriert uns, dass wir uns auch kritisch mit uns selbst auseinandersetzen müssen. Und das kann sehr unangenehm sein.

Umgang mit kognitiver Dissonanz

Es gibt verschiedene Arten, wie Menschen auf kognitive Dissonanz reagieren können. Eine Möglichkeit wäre, die eigenen Werte schlicht zu ändern. Also quasi den Glauben an Menschenrechte, an Anti-Diskriminierung, an Respekt und Toleranz über Bord zu werfen. Es gibt durchaus Menschen, bei denen das möglich wäre. In solchen Fällen handelt es sich oft um Menschen, die zu wenig bis gar keiner Empathie fähig sind. Das ist zum Beispiel bei narzisstischen oder psychopathischen Menschen der Fall. Da die meisten Menschen aber weder narzisstisch, noch psychopathisch sind, kommt diese Möglichkeit für sie allerdings kaum in Frage.

Eine weitere Möglichkeit wäre, statt den Werten die Handlungen zu ändern. Wenn mich also zum Beispiel jemand auf etwas Problematisches aufmerksam macht, das ich gesagt habe, kann ich mich dafür bedanken, mich selbst korrigieren, und es nicht wiederholen. Ich bringe dann aktiv meine Handlungen in Einklang mit meinen Werten.

Abwehrmechanismen

Es gibt aber noch eine dritte, komplexere, aber sehr häufig angewendete Möglichkeit: Menschen können ebenfalls die Wahrnehmung ihrer Handlungen verändern, so dass es den Anschein hat, als würden sie mit ihren Werten übereinstimmen. Obwohl sie es gar nicht tun. Das passiert zum Beispiel über gewisse psychologische Abwehrmechanismen. Ein Abwehrmechanismus kann zum Beispiel Leugnung sein. Ganz oft leugnen wir zum Beispiel, dass wir etwas Rassistisches oder Transfeindliches gesagt oder getan haben, wenn uns jemand darauf aufmerksam macht. Die Leugnung hilft uns dabei, den Anschein zu bewahren, dass unsere Handlungen unseren Werten entsprechen.

Ein weiterer Abwehrmechanismus kann Rechtfertigung sein. Wir rechtfertigen zum Beispiel rassistische Asylpolitik als notwendig, obwohl Menschenrechtsorganisationen sie kritisieren und Alternativen aufzeigen. Oder wir rechtfertigen unsere rassistischen Aussagen gegen muslimische Geflüchtete mit der falschen Behauptung, sie wären eine Gefahr für queere Menschen. Die Rechtfertigung als notwendig hilft uns dabei, das unangenehme Gefühl der kognitiven Dissonanz (vermeintlich) loszuwerden.

Kognitive Dissonanz ist ein gutes Zeichen

Doch Kognitive Dissonanz ist etwas Positives. Warum? Weil ich mir noch viel mehr Sorgen machen würde, wenn ein Mensch überhaupt keine kognitive Dissonanz empfinden würde. Bei solchen Menschen handelt es sich oft um Individuen mit hoher psychopathischer oder narzisstischer Ausprägung. Menschen, die zu wenig bis kaum Empathie fähig sind und denen ebenfalls Werte wie gegenseitiger Respekt und Inklusion egal sind. Das Empfinden von kognitiver Dissonanz ist also erst einmal ein gutes Zeichen. Es zeigt: Mir ist Empathie wichtig. Mir ist der Respekt gegenüber anderen Menschen wichtig. Mir ist wichtig, dass ich andere Menschen nicht diskriminiere.

Proaktiver Umgang mit kognitiver Dissonanz

Wie also proaktiv und achtsam mit dem Gefühl kognitiver Dissonanz umgehen? Zuerst einmal ist es wichtig, sich bewusst zu werden, wenn man kognitive Dissonanz empfindet. Denn ganz oft spürt man zwar ein gewisses Unwohlsein, kann es aber nicht richtig greifen oder benennen. Und das kann dann dazu führen, dass man sich angegriffen fühlt und in Leugnungs- oder Rechtfertigungsstrategien übergeht.

Mit dem Bewusstsein für das Empfinden kognitiver Dissonanz kann man dann auch achtsamer mit sich selbst, anderen Menschen, und den eigenen Handlungen und Aussagen umgehen. Achtsamkeit bedeutet dann auch, dass man es nicht als Angriff oder Scham wahrnimmt, wenn jemand mich auf etwas Rassistisches oder Transfeindliches aufmerksam macht, das ich gesagt oder getan habe. Scham bedeutet, dass ich mich selbst als „falsch“, als „schlecht“ erachte. Bei strukturellen Diskriminierungssystemen wie Rassismus geht es aber weniger um mich als Individuum, sondern viel mehr um uns als Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die uns als Individuen rassistisch sozialisiert. Ich kann es also als Chance begreifen, Rassismus und Transfeindlichkeit wieder zu verlernen. Dafür kann ich auch Dankbarkeit empfinden. Denn es ist eine Möglichkeit, authentischer zu werden. Es ist ein Zeichen von tiefer Integrität, wenn meine Werte mit meinen Handlungen in Einklang stehen.

Und schlussendlich möchten das doch die meisten von uns.


Februar ist Black History Month. Im Rahmen dessen laden wir dich dazu ein, dich mit queerer Schwarzer Geschichte zu beschäftigen. Zum Beispiel könntest du etwas über Bayard Rustin, Marsha P. Johnson, oder Audre Lorde lesen. Über den schwulen Bürgerrechtsaktivisten Bayard Rustin gibt es seit Kurzem zudem einen Film auf Netflix.