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Sexualität zwischen Deutschland und Nordafrika

2022 erschien Mohamed Amjahids Buch „Let’s Talk About Sex, Habibi“, das durch Einblicke in Liebe, Leben und Begehren von Nordafrikaner*innen mit Klischees, Fetischisierungen und Orientalismus aufräumt. Manu Abdo hat sich mit Mohamed über Kondomverkäufe in Apotheken, Sextourismus und Masturbation unterhalten.

Mohamed, als ich dein Buch kaufen wollte, besuchte ich eine große Buchhandlung. Trotz Anzeige im System konnte das Personal es nicht finden. Schließlich fand ich es in einer anderen Filiale derselben Kette im Regal für „Spiritualität-Ratgeber“. Ist das eine passende Kategorie? Ist es verwirrend, deine Arbeit hier einzuordnen?

Tatsächlich ist mir das auch schon passiert. Ich arbeite mit einem großen Verlag zusammen, der einen ausgezeichneten Vertrieb hat und zu den führenden auf dem deutschen Buchmarkt zählt. Dennoch gibt es viele Menschen, die Schwierigkeiten haben zu verstehen, welche Bücher in welchen Regalen stehen sollten. Es gab sogar eine große Buchkette, die konservativ eingestellt ist und anfangs strikt dagegen war, das Buch in ihre Regale zu nehmen. Einige Buchhandlungen haben es dann in die Kategorien Spiritualität oder Ratgeber einsortiert, was für das Buch eigentlich nicht ideal ist. „Let’s talk about sex, Habibi!” hat einen feministischen, queeren und sexpositiven Ansatz und sollte daher auch in entsprechenden Regalen zu finden sein. Weder ich als Autor noch der Verlag haben letztendlich die Entscheidungsgewalt darüber, wo es platziert wird. Es obliegt der Buchhandlung, es entweder im Regal zu platzieren oder nicht. Dies verdeutlicht jedoch auch die Herausforderung, alternative, queere und feministische Ideen oder Texte angemessen zu präsentieren, um sie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

Als Feedback für deine Arbeit wird dir manchmal gesagt: „Du bist aber fortgeschritten für einen Mohamed“. Soll das ein Kompliment sein?

Das ist ein vergiftetes Kompliment. Und leider hört man es auch in progressiven Kreisen. Einerseits ist es eine Anerkennung meiner Modernität und Fortschrittlichkeit. Andererseits führt es automatisch dazu, dass Menschen als „anders“ klassifiziert werden. Bin ich selbst jemand, der eine konservative Lebensweise gutheißen würde? Natürlich nicht. Aber ich habe keine Macht, jemandem zu sagen, du sollst jetzt nicht gläubig sein oder Ramadan nicht machen.

Ich sehe in diesem Feedback eine subtile Form von Rassismus. Zudem haben viele Menschen in Deutschland Schwierigkeiten, meinen Namen Mohamed korrekt auszusprechen. In Podiumsdiskussionen oder Gesprächen mit Kollegen in verschiedenen Redaktionen bemerke ich regelmäßig ein regelrechtes Unbehagen, wenn sie meinen Namen aussprechen müssen, weil er in ihren Köpfen negativ konnotiert ist. In meinen ersten beiden Büchern habe ich versucht, diese Voreingenommenheit zu dekonstruieren. Die Annahme, dass man allein anhand eines Vornamens auf den Charakter und die Persönlichkeit einer Person schließen kann, ist absurd. Ich kann nicht behaupten, jemand sei böse, nur weil er Heinrich heißt. Es gibt sicherlich auch böse Heinrichs, aber es ist oberflächlich, auf diese Weise zu denken. Leider ist dies etwas, dem ich und viele andere Mohameds täglich begegnen.

Mit deinem dritten Buch gehst du aber anderen Fragen nach.

Ja, nach zwei Büchern über weiße Menschen wollte ich die Perspektive ändern und andere in den Mittelpunkt stellen. Und da ich teilweise in Marokko aufgewachsen bin und als Reporter in Nordafrika überall unterwegs war, war es schnell klar, dass ich über Nordafrika schreiben möchte.  Wir interessieren uns als Menschen für Sexualität und die Sexualität von anderen, und deshalb sind Begehren, Liebe und Sexualität eigentlich nur Möglichkeiten und Brücken, um über viele andere Dinge zu sprechen: über Feminismus, Queerness, Migration, Tourismus und Machtgefälle, über Kolonialismus und postkoloniale Strukturen. Nordafrikanisch-stämmige Menschen werden immer noch mit einem rassistischen Minus-Blick betrachtet. Deswegen wollte ich ein bisschen dekolonisieren und einfach die Realität zeigen, ohne sie zu romantisieren. Es geht also nicht darum zu sagen, alles ist super, sondern zu sagen, hier ist das Gesamtbild und es ergibt in seiner Gesamtheit wenig Sinn, aber so ist halt das Leben und so ist die Realität. Man findet alles in Nordafrika, z.B. sexpositive Traditionen. Und daneben aber auch extremistische religiöse Kräfte, die eben sexualitätsfeindlich sind. Man findet Partys, von denen man in Berlin nur träumen kann. Aber man findet auch Regime, die queerfeindliche oder frauenfeindliche Politik machen und dennoch als säkular bezeichnet werden. Deswegen ist es für mich ein Anliegen, die Region ein bisschen anders vorzustellen.

Wie hast du es geschafft, durch die Vielseitigkeit zu führen, ohne dabei Klischees zu verstärken?

Ich verfügte über reichlich Material für mein Buch: Als ich in Marokko aufwuchs, erlebte ich dort 12 Jahre lang die komplette Bandbreite der Jugendjahre. Zusätzlich war ich als Reporter über 10 Jahre lang in Nordafrika tätig. Diese Erfahrungen motivierten mich dazu, das Buch zu konzipieren, denn je intensiver und häufiger man beobachtet, desto nuancierter kann man darüber schreiben. Trotz meiner Bemühungen, Klischees zu vermeiden, erhielt ich kritische Rückmeldungen. Im Buch behandle ich beispielsweise den Glauben an Magie in Marokko, was von einigen als Klischee betrachtet wurde, jedoch der Realität entspricht. Als Reporter liegt es nicht in meiner Aufgabe, die Dinge zu beschönigen, sondern zunächst einmal, sie zu beschreiben und auf unterhaltsame Weise darzustellen.

Du sprichst im Buch sehr viel an, das Diskussionen auslösen kann. War es schwierig für dich, die Themen auszuwählen?

Mir war es wichtig, verschiedene Themen anzusprechen. Deshalb hatte ich eine Liste mit Themen, darunter feministische Theorie, Kolonialismus und Postkolonialismus. Ich führe eigentlich schon immer ein Tagebuch, in dem ich einfach schnell und detailliert schreibe – das ist für mich Routine. Anschließend habe ich mein Feldforschungstagebuch konsultiert und versucht, aus diesem Fundus genau diese Themen zu illustrieren. Für jedes wichtige Thema habe ich mindestens eine Anekdote erzählt, um eine Metaebene zu schaffen. Viele Geschichten habe ich geschrieben und dann wieder verworfen, weil die beteiligten Personen nicht im Buch erscheinen wollten. Aber andere haben zugestimmt und mir mehr Details gegeben.

Ein Thema, das mich an mein Leben in Kairo erinnert, ist die unangenehme Situationen mit den Apotheker*innen, von denen man beim Kondomkauf verurteilt wird. Möchtest du das kurz kommentieren?

Für mich war es eine Art Forschung, überall Kondome zu kaufen. Die Aufgabe einer Apotheke ist es, sich um die Gesundheit seiner Kund*innen zu kümmern, ohne ideologische Färbung und ohne den Menschen ein schlechtes Gewissen einzureden. Ich habe vier Kondomkäufe im Buch beschrieben, aber es gibt 50 weitere Geschichten, die völlig unterschiedlich sind, auch innerhalb eines Landes. In Tunis hatte ich z.B. das Pech, einem ultrakonservativen salafistischen Apotheker zu begegnen, in Oran-Algerie war es ebenfalls ein ultrakonservativer Salafist, der mir aber sogar Gleitgel verkaufen wollte. Mittlerweile gibt es in jeder Straße in Marokko Kondom-Automaten. Ich muss auch dazu ganz offen sagen, dass es teilweise einfacher ist, einen HIV-Test in Casablanca zu bekommen als in manchen deutschen Städten. Wenn du als Person, die besonders von Rassismus betroffen ist, einen Test machen möchtest, bekommst du in einigen Orten in Deutschland auch komische, teilweise rassistische Kommentare zu hören.

Sextourismus und die pädophile Neigungen einiger Tourist*innen in Nordafrika kommen im Buch vor. Warum glaubst du, dass manche europäische Tourist*innen dort glauben, Grenzen überschreiten zu können?

Es hat auf jeden Fall eine koloniale Komponente, aber im zeitgenössischen Sinn. Schon seit sehr langer Zeit sind Kolonialist*innen nach Nordafrika gereist und haben sich dort bedient. Ich versuche im Buch quasi diese vielen Reisen von Europäer*innen zu skizzieren. Es gibt z.B. einen britischen Autor, der nach Ägypten fährt und sogar in seinem Tagebuch sehr minutiös festhält, wie Minderjährige sexuell belästigt werden, und das dann als große Freiheit feiert. Das gilt für fast alle Länder in Nordafrika, außer für Algerien, dort ist es ein bisschen anders. Weiße Menschen, vor allem Tourist*innen, können in der Region mehr oder weniger machen, was sie wollen. Ich beschreibe diese Szene im Buch, wo ein europäischer Tourist einen Minderjährigen mit aufs Zimmer nimmt und er hat noch nicht mal Angst, erwischt zu werden, weil er weiß, er kann sehr weit gehen. In Marokko gab es außerdem den Fall eines spanischen Pädokriminellen, der mehrere Minderjährige vergewaltigt hat und dann auf Druck von Protesten verurteilt wurde. Und dann wurde er auf Anfrage des spanischen Königs begnadigt und nach Spanien zurückgeschickt.  Pädokriminelle Aktivität gehen dort vor allem von Tourist*innen aus Europa, aber auch aus den Golfstaaten aus, da sie bestimmte finanzielle Möglichkeiten mitbringen. Sie wissen: Es ist nah, günstig und mit einem eher geringeren Risiko im Vergleich zu anderen Ländern verknüpft. Da werden auf jeden Fall rote Linien und Grenzen überschritten, und als nordafrikanische Gesellschaften müssen wir auch unbedingt über diese Gewalt sprechen.

Mit wem sollen wir denn sprechen?

Mit uns selbst! In ehemals kolonisierten Gesellschaften gibt es immer noch an einigen Stellen einen Minderwertigkeitskomplex, der jedoch langsam abgebaut wird. Vor Kurzem war ich in Marokko und bemerkte, dass sich etwas mehr Selbstbewusstsein zeigt. Vor 20 Jahren waren die Leute eher so: „Gott, ein Europäer, ein Tourist. Man muss ihm alles anbieten.“ Mittlerweile sagen die Leute in der Gesellschaft eher: „Wenn du dich nicht benehmen kannst, bist du auch hier als Tourist nicht erwünscht.“ In Deutschland wird oft behauptet, Ausländer*innen „machen, was sie wollen, und sie sind kriminell“. Doch aus meiner Sicht sind die größten problematischen Ausländer*innen die Deutschen im Ausland.

In einer anderen Geschichte kommt ein Marokkaner durch eine Scheinehe nach Europa, kehrt aber nach einiger Zeit nach Marokko zurück, weil es ihm in Europa nicht gefällt. Ähnliche Geschichten höre ich immer wieder. Warum kommen Menschen nach langer und komplizierter Planung und lassen dann einfach alles stehen und liegen und gehen wieder zurück?

Die Tatsache, dass viele Menschen aufgehört haben, sich an Europa zu orientieren, fasziniert mich sehr. Früher haben viele meiner Freund*innen gesagt: „Wie dumm sind deine Eltern? Ihr wart in Deutschland, und sie haben euch zurückgeholt. Wie dumm ist das, nach Afrika zurückzukehren?!” Dies hat jedoch deutlich abgenommen und hat viel mit dem gesteigerten Selbstbewusstsein zu tun, von dem ich gesprochen habe. Die Leute sind selbstbewusster geworden und sagen: „Warum sollte ich irgendwo hingehen, wo ich wie Dreck behandelt werde?“ Viele haben sich dafür entschieden, diesen Traum zu begraben oder gar nicht erst davon zu träumen. Das setzt natürlich voraus, dass es einem gut geht und man in Casablanca oder Kairo ein gutes Einkommen hat und politisch nicht unter Druck gesetzt wird. Dann kann man einfach sagen: „Gut, dann lebe ich halt mein Mittelschichtsleben.” Dies begegnet mir viel öfter als in der Vergangenheit. Zudem gibt es viele Menschen in Nordafrika, die gar nicht nach Europa reisen dürfen. Manche wollen gar nicht nach Deutschland kommen, um hier zu leben, sondern einfach ein Selfie vor dem Brandenburger Tor für Instagram machen – sie wollen einfach Tourismus machen, und hier liegt eine strukturelle Ungerechtigkeit. Warum können Deutsche überall hinreisen und andersherum nicht? Das ist für viele junge Menschen ein Druck und eine grundlegende Ungerechtigkeit. Deshalb glaube ich daran, dass es besser für die Menschheit wäre, ohne Grenzen auszukommen und die Leute erst einmal machen zu lassen, und dann zu sehen, was passiert. Aber das ist nur eine Utopie. Es wird oft angenommen, dass Menschen gerne in Deutschland sind. Das mag sein, aber viele mussten aus Sicherheitsgründen ihre Heimat verlassen. Es ist nicht einfach, den ganzen Rassismus hier auszuhalten, nicht daran zu denken, und sich nicht zu sagen, dann gehe ich halt wieder weg.

Als deine Eltern 1995 aus dem vermeintlich „sündigen Deutschland“ in das „mehr konservative Marokko“ zurückzogen, waren sie enttäuscht, weil sich gegenüber ein Bordell befand. Anfangs war es ein Schock, aber im Laufe der Zeit entwickelte sich jedoch eine Freundschaft zwischen deiner Mutter und einer Frau aus dem Bordell. Was könnte eine solche Geschichte aufzeigen?

Dies zeigt, wie viele Menschen offen sind, einfach ihre Meinung zu überdenken. Oft wird Musliminnen nachgesagt, sie seien dogmatisch, würden nicht nachdenken und seien nicht offen. Diese Geschichte kann sehr gut illustrieren, dass das nicht stimmt. Ich würde nicht sagen, dass meine Mutter unbedingt pro Sexarbeit ist, aber sie ist sehr pragmatisch. Das zeigt auch, dass besonders Frauen in Nordafrika sehr geschickt sind, verschiedene Dinge und Konflikte zu verarbeiten, und dass sie eine gewisse Solidarität untereinander haben.  Ich habe anderthalb Jahre in einem volkstümlichen Viertel in Kairo gewohnt, und dort habe ich gelernt, dass viele Menschen überleben, weil die Frauen eine gewisse Solidarität untereinander pflegen und es ein solidarisches Netzwerk in der Nachbarschaft gibt. So etwas gibt es in Deutschland z.B. gar nicht. In der Pandemie hätte mein Nachbar an COVID sterben können, und ich hätte es nicht einmal mitbekommen, weil man im selben Haus nicht miteinander spricht.

Zum Buch hat dich auch der Fassbinder-Film „Angst essen Seele auf“ inspiriert.

Dieser Film ist auf jeden Fall ein Spielfeld, wo man an deren Figuren viel mehr erzählen könnte, als es der Film macht. Es geht in der Geschichte um einen marokkanischen Gastarbeiter Ali, einen gut aussehenden Mann mit Muskeln und einem aktiven Sexualleben, der nicht gut Deutsch spricht und in München landet. Dort beginnt er eine Affäre mit Emmi, einer älteren deutschen Frau. Sie versucht, ihr Trauma als Täterin während des Nationalsozialismus ein wenig mit dieser Beziehung zu verarbeiten. Sie hat zumindest mit angeguckt, wie der Holocaust passierte und wie die Nachbar*innen deportiert wurden. Darin habe ich die Geschichte meines Vaters gesehen, wie er erstens ganz allein nach Deutschland gekommen ist, wo er im Frankfurter Bahnhofsviertel bei den Prostituierten und Bars herumgehurt hat. Ich war vor wenigen Wochen bei einer Lesung in Essen, wo wir uns einen Ausschnitt aus dem Film angesehen haben, und zwar die Szene, in der die Freundinnen von Emmy aus der Nachbarschaft kommen und Alis Muskeln anfassen wollen. Es fasst ihn eine an und sagt: „Der ist so sauber“, weil rassistisch betrachtet Nordafrikaner*innen aus deutscher Perspektive alle dreckig sind. Und dann sagt Emmy: „Ja, er wäscht sich… duscht sogar… jeden Tag.“ Dann ist Ali, der sonst eigentlich nicht so viel versteht, sehr beleidigt, weil er das hier doch verstanden hat, und dann geht er aus dem Haus. In der nächsten Szene ist er bei einer anderen Freundin, und dann sieht man ihn komplett nackt. Das war damals ein Skandal, einen Mann nackt mit Penis zu zeigen. Aber „Nordafrikaner*innen” aus weißer Perspektive zu zeigen war „ok”. Ich habe dann herausgefunden, dass Ali im Film gar nicht selbst spricht, sondern nur die Lippen zu einem gesprochenen Text bewegt, der von einem deutschen Schauspieler eingesprochen wurde, der mit einem imaginierten marokkanischen Akzent spricht. Dieser Film hat so viele absurde Ebenen und ich fand es einfach sehr spannend, ihn irgendwie kritisch auseinanderzunehmen. Auch weil er in intellektuellen deutschen Kreisen als Meilenstein der deutschen Filmgeschichte gefeiert wird.

Man findet hier auch eine Sprachanalyse. Und zwar darüber, wie das Wort Masturbation ausgedrückt wird.

Das hat in Ägypten angefangen, als ein Kumpel mir erklärt hat, welchen Ausdruck man dort für Masturbieren benutzt: „Zehn schlagen“. Das hat mich gewundert, denn es ist sehr spezifisch, aber macht nicht viel Sinn. Dann habe ich andere Leute gefragt, was das bedeutet, und wir haben verschiedene Theorien gefunden, aber keine eindeutige Antwort. So bin ich auf dieses Thema gekommen: Sprachlich hinterfragen, wie Masturbieren bei Männern überhaupt genannt wird. In Tunis sprechen sie von Abschaben, was nicht so sanft ist. In Algerien hat man wegen des Kolonialismus ein französisches Wort einarabisiert. Ich wollte die sprachliche Vielfalt teilen, aber auch zeigen, dass Menschen auch über Sexualität sprechen. Dann habe ich mich gefragt, wie man Masturbieren mit der Vulva nennt. Zuerst habe ich im Deutschen gesucht, aber es gibt kein sexy Wort dafür. Es gibt nur sehr infantile Ausdrücke, über die man nicht sexy sprechen kann wie „Handtasche auspacken“. Das hat mir gezeigt, dass Sexualität über die Sprachgrenzen hinweg auf Männer fokussiert ist und zeigt aber auch, wie kreativ Sprache sein könnte. Mein Fazit ist, dass sehr viele Menschen in Nordafrika viel Spaß haben und es auch verstehen, befreit zu sein. Jedoch sind im Nachhinein verschiedene Komponenten dazugekommen: Kolonialismus, Islamismus und andere extreme Formen von religiösen Auflegungen. Dies hat die Offenheit in diesen Gesellschaften etwas kaputt gemacht, aber es gibt eine Besinnung auf die Tradition.

Ich zitiere jetzt aus dem Buch. „Was mich stört: ein weißer (polygamer) Mann ist das Maximum an Fortschritt und sexueller Befreiung, ein nicht-weißer Mann mit mehr als nur einer Partnerin ist das Maximum an Unterdrückung und Frauenfeindlichkeit.” Magst du mir das erzählen?

Es ist doch absolut absurd, das eine zu feiern und das andere zu kritisieren. Aber das zeigt den Doppelstandard. Entweder ist beides doof oder beides gut. Ich habe neulich wieder einen Text über Polyamorie gelesen, in dem es einen weißen Thomas gab. Der hatte drei Partnerinnen und das war auch schön so. Aber das ist eigentlich ja nichts anderes als Polygamie.  Polygamie wird in Nordafrika nicht mehr oft gelebt und ist auch Ausdruck patriarchalischer Strukturen, weil Frauen polygam nicht leben können, offiziell zumindest. Aber das zeigt auch so ein bisschen den Doppelstandard. Warum ist das eine gut und das andere nicht gut? Weil das eine wird von Thomas gemacht und das andere von Mohamed. Deswegen war es für mich auch ein Anliegen, auf diese Perspektive kritisch zu blicken. Dann ist es eigentlich egal, wie die Beteiligten heißen oder woher sie kommen.  Wir reden ja hier auch ganz viel über Familie, Gesellschaftsmodelle und Familienrecht. Und wenn wir über Familienrecht sprechen, müssen wir auch zum Beispiel über Scheidung sprechen. Ich schreibe im Buch darüber, wie schwierig es ist, in Deutschland sich scheiden zu lassen und wie einfach es ist, sich in Marokko scheiden zu lassen, auch als Frau. Es gibt noch eine weitere Reform in Marokko und wird auch demnächst noch mehr vereinfacht. Das zeigt auch, wie zurückgeblieben das deutsche Familienrecht im Vergleich zum marokkanischen Familienrecht ist.

Ich habe in „Let’s talk about Sex, Habibi“ ein breites Spektrum von Sexpositivität bis hin zu Unterdrückung gefunden. Gibt es bestimmte Botschaften, die du den Leser*innen auf den Weg geben möchtest?

Wenn es eine Botschaft gibt, die ich senden möchte, dann ist es, dass wir damit aufhören sollten, Menschen in Schubladen zu stecken. Hoffentlich sind die Leute so offen, sich genau auf diese Realität einzulassen, das Buch zu lesen und auch ihre eigenen Vorurteile und rassistischen Denkweisen über die Region und die Menschen abzubauen. Das gilt auch für die entsprechenden Diaspora-Gruppen hier in Deutschland oder in Europa. Als Journalist ist es meine Aufgabe, auch die Missstände zu benennen und sie einzuordnen, ohne etwas zu romantisieren oder klein zu reden. Wir müssen auch über sexualisierte Gewalt, Frauenfeindlichkeit und Queerfeindlichkeit reden, und das habe ich im Buch ausführlich getan. Was mich auch total freut, ist eine sehr breite positive Rezeption dieses Buches, wo viele, darunter auch weiße Deutsche, sagen: „Das hätte ich so nie gedacht. Aber danke, dass ich das lernen durfte.” Oder auch, wie ich meine Pubertät Anfang der 2000er-Jahre auf unserem Schulhof in Marokko beschrieb, und wie die ganzen Porno-CDs im Umlauf waren und die Jungs heimlich Pornos geguckt haben. Dann kommen Deutsche in meinem Alter auf mich zu und sagen: „Bei uns auf dem Schulhof war es auch genauso.” Das ist doch schön, weil Hormone dann in dem Fall überall ähnlich funktionieren. Bei einer Lesung in Marokko gab es einen Tisch nur mit jungen cis Heteromännern. Die kamen und wollten über das Buch reden. Bei einer anderen in Casablanca war die Hälfte des Publikums queer und sie wollten ebenfalls darüber reden. Auch in Deutschland, wenn plötzlich bei meinen Lesungen junge Leute auftauchen, die in konservativen Familien aufwachsen und das Buch gelesen haben, und die sagen: ‚Für mich war das eine Möglichkeit, mich überhaupt identitätsmäßig mit mir selbst zu beschäftigen.‘ Das finde ich super schön und ist für mich natürlich das größte Kompliment.

Vielen Dank für das Gespräch, Mohamed!

Der freie investigative Journalist und Buchautor Mohamed Amjahid widmet sich verschiedenen Themen, darunter rassistische Strukturen in Deutschland und Europa sowie verschiedene Formen der Diskriminierung, insbesondere Gewalt gegen Geflüchtete in Deutschland und an den Außengrenzen der EU. Die Kernthemen seiner ersten beiden Bücher „Unter Weißen“ und „Der Weiße Fleck“ bestehen darin, die historisch gewachsene Privilegierung von weißen Menschen zu beschreiben und Einblicke aus verschiedenen Perspektiven in die Mehrheitsgesellschaft zu bieten. Er hinterfragt kritisch, was es bedeutet, privilegiert zu sein. Im Jahr 2022 erschien sein drittes Buch „Let’s Talk About Sex, Habibi„, das durch Einblicke in Liebe, Leben und Begehren von Nordafrikaner*innen viele rassistische Stereotypen aufdeckt.

Von Manu Abdo

Manu Abdo (er, he) lebt in Berlin und ist ägyptische Journalistin mit Schwerpunkt auf LSBTQIA+ Themen.